Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
wird nicht in meiner Kirche singen!«
»Ihre Stimmen sind schön …«
»Die Vollkommenheit ist schön«, sagte
der Abt. Er erstickte mit seinem Blick Ulrichs Protest, als könnte er allein
durch seinen Willen Kastraten aus allen Kirchen der Welt verbannen. Schließlich
sah er mich an, wie ich neben meinem Hocker stand, und die Verachtung in seinem
Gesicht verstärkte sich noch. »Besorgt einen ganzen Mann, um die Partie zu
singen.«
»Falsettisten sind unbefriedigend für
Charpentiers ersten Sopran«, machte Ulrich einen erneuten Versuch. »Die Musik
ist zu hoch. Der Sänger muss … engelsgleich sein. Vielleicht könnten wir
erwägen … das heißt … vielleicht … eine Fr-Frau?«
Staudachs Augen traten hervor. Ulrich
tat seinen eigenen Vorschlag mit einer schnellen Handbewegung ab.
»Dann lasst ihn einfach weg«, sagte
Staudach.
Bei diesen Worten stockte mir der
Atem. Ich konnte sehen, dass Ulrich versuchte, eine ähnliche Reaktion zu
verbergen. »Den ersten Sopran weglassen?«, stammelte er.
»Oder lasst ihn tiefer singen.«
Ulrich schwieg. Er schüttelte den
Kopf.
Staudach riss Ulrichs Brief in Stücke
und spuckte dazu seine Worte mit jedem Reißen aus. »Ich dulde. Keinen Eunuchen.
In meiner Kirche!«
»Abt, ich sehe keinen …«
Staudach sah mich an. »Er kann
singen.« Das sagte er wie eine Anschuldigung.
Bei diesen Worten verlor Ulrich die
Fassung. Er starrte mit offenem Mund erst mich an, dann Staudach. »Der Junge?«,
fragte er verwundert.
»Ihr sagt doch, dass er gut ist.«
»Ja. Er ist großartig. Aber …«
Staudach nickte. »Gut. Dann ist es
entschieden.«
»Aber er ist noch nicht so weit, mit
ausgebildeten Sängern singen zu können«, entgegnete Ulrich. »Er ist zehn Jahre
alt.«
Staudach war fertig. Er zeigte noch
einmal auf mich. »Er singt, Bruder Ulrich, oder Ihr schreibt die Partie für
Trompete um«, sagte er und stürmte hinaus.
Damit war mein Debüt beschlossen:
Ich würde den Sopran in Charpentiers Te Deum bei der Einweihung der Kirche singen. Ich rannte los,
um es Nicolai zu erzählen. »Charpentier!«, sagte er. Er sah nach oben an die
Decke, als hätte ihn diese Nachricht befähigt, direkt in den Himmel zu blicken.
»Remus! Erinnerst du dich? In Rom!«
Remus zuckte die Achseln und sagte, er
sei sich nicht sicher. Aber er lächelte mich an, was so selten geschah, dass ich
vor lauter Schüchternheit zitterte. »Das ist eine große Ehre, Moses«, sagte er.
»Du kannst sehr stolz darauf sein.«
»Du wirst großartig sein«, fügte
Nicolai hinzu und zerwühlte mir die Haare.
In diesem Augenblick, als die beiden
lächelnden Gesichter mich ansahen, spürte ich zum ersten Mal in meinem Leben
eine gewisse unruhige Angst in mir aufsteigen, denn mir wurde klar: Ich konnte
großartig sein, aber ich konnte auch katastrophal sein. Es konnte mein Aufstieg
sein – oder mein Ruin.
Ulrichs Gedanken gingen in dieselbe
Richtung. Die folgenden Monate beschäftigten wir uns mit nichts anderem. Ich
erwachte mitten in der Nacht mit dem Sopransolo des sechsten Satzes im Kopf und
sorgte mich, wie meine Stimme die riesige Kirche füllen sollte. Ulrich
befürchtete, dass meine zarte Kehle Schaden nehmen könnte, wenn ich mit
erwachsenen Männern singen würde – Männern mit Lungen, die vier- oder sechsmal
so groß waren wie meine. Aber nie hat es einen lebenden Menschen gegeben, der
besser wusste als Ulrich, wie man einen Körper zum Klingen bringt. In den
Wochen vor meinem Debüt streichelten seine ermutigenden Hände noch hektischer,
als er immer weiter ging und mich lehrte, wie ein Mann zu singen.
Zur Einweihung erwartete Staudach
achtzehn Schweizer Äbte sowie die Bischöfe von Konstanz und Petera. »Sie haben
mir versprochen, mir Diderots Encyclopédie mitzubringen«, sagte Remus und meinte die Genfer
Delegation.
»Ein Enzyklopodie?«, fragte Nicolai,
das französische Wort verunstaltend. »Ist das etwa ein Ungeziefer? Bring das
bitte nicht in dieses Zimmer.«
Eines Abends gelang es Ulrich, mich
noch weiter in Schrecken zu versetzen. »Moses«, flüsterte er, als befürchtete
er, jemand würde an der Tür lauschen. »Ich habe nach Stuttgart geschrieben. Ich
möchte, dass sie von dir erfahren. Nördlich der Alpen gibt es keinen besseren
Ort für Musik. Sie schicken einen Mann, einen Italiener, der etwas davon
verstehen muss, sonst hätten sie ihn nicht ausgesucht.« Ulrich streckte den
Finger nach meiner Wange aus. Ich erstarrte bei der kalten und leblosen
Berührung. »Moses,
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