Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
Meilen, saß im Halbkreis vor dem Chorgestühl. Umgeben wurde er von
den Hörnern, den Streichern und den beiden riesigen Timpani, die ich zuerst für
Fässer mit Messwein gehalten hatte. In der Mitte hatten die drei anderen
Solisten ihren Platz bereits eingenommen. Gerrit Glomser, Bass, sah mit leerem
Blick ins Kirchenschiff, als hätte er diese beeindruckende Kirche schon viele
Male besucht. Joseph Schock, ein Tenor mit kleinem Kopf und breiten Schultern,
war während der Proben freundlich zu mir gewesen, schien mich jetzt aber nicht
zu sehen, denn er war in Schweiß ausgebrochen und starrte auf seine zitternden
Hände.
Der dritte Solist, der Mezzosopran
Antonio Bugatti, jedoch lächelte mich freundlich an. Vor zwei Tagen, als ich
das erste Mal mit ihm gesungen hatte, war ich in Nicolais Zelle gerannt, um
meinem Freund von dem Wunder zu berichten, das ich erlebt hatte – ein Mann, der
die hohen Noten eines Kindes sang, aber so strahlend und kräftig wie die beste
Männerstimme, die ich je gehört hatte. Das erste Mal, als ich Bugatti singen
hörte, ließ seine Stimme meinen ganzen Körper beben, und ich vergaß, meinen
Teil zu singen. Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen, als ich
Nicolai von dieser Schönheit erzählte.
Aber mein Freund hatte nur
misstrauisch gelächelt. »Ich würde Staudachs Falsettisten gerne selbst sehen«,
sagte er. »Der Abt mag sich täuschen lassen, ich aber kann einen Engel
erkennen.« Als ich ihn fragte, was er meinte, wollte er nichts weiter sagen,
aber er versprach mir, mich am Tag der Einweihung an meinen Platz zu tragen,
damit er den Mann von Nahem sehen konnte.
Und als er jetzt in der Kirche sein
Versprechen erfüllt hatte, lächelte Nicolai, als er neben mir kniete und
vorgab, mein Haar zu glätten. »Moses«, flüsterte er mir ins Ohr, »ich hatte
recht. Staudachs Falsettist ist ein Musico. Ich kann das sehen.«
Ich sah zu dem Mezzosopran Bugatti
auf, der ein besonders schöner Mann war: Er war feingliedrig und bewegte sich
genauso anmutig, wie er sang. Ich erinnerte mich an Staudachs Verbot, einen
Musico in seiner Kirche singen zu lassen.
»Nicolai«, flüsterte ich, »was ist ein
Musico?«
»Ein Musico ist ein Mann«, sagte
Nicolai, »der kein Mann ist. Er ist zum Engel gemacht worden.«
Ich sah nicht, wie die Reliquien
in die Krypta getragen wurden. Ich konnte Staudach auf seiner Kanzel nicht
sehen. Ich hörte nicht zu, als er den Mengen verkündete, dass diese Kirche die
Manifestation des göttlichen Willens auf Erden sei und dass wir in ihr sehen
sollten, was wir selbst werden konnten. Ich ignorierte das Flüstern und das
aufgeregte Atmen und das Rascheln, das mich von allen Seiten anflog.
Stattdessen starrte ich auf Bugattis lange Finger, die auf seinen Knien lagen.
Hatte der Mann Flügel unter seinem Gewand versteckt? Als das Präludium mit
Trommelwirbeln begann, lächelte mir Bugatti wieder zu, und es gab keinen Ort,
an dem ich lieber gewesen wäre, als neben ihm. Die Hörner begannen zu spielen,
und alle Gesichter in der Kirche, meines eingeschlossen, erwärmten sich bei dem
prachtvollen Klang.
Der Bass Glomser sang. Er gab Töne von
solchem Volumen von sich, dass sie unmöglich aus einem einzigen Körper kommen
konnten. Die Stimme des Mannes erfüllte jeden Winkel der Kirche und brachte
jedes Flüstern zum Schweigen. Ich hörte seine Stimme im Inneren vieler Menschen
klingen. Verstärkt durch das Echo aus der hohen Rotunde, nahm seine Stimme die
Kirche in Besitz, und ich vermute, dass viele glaubten, der Allmächtige würde
mit ihm singen.
Inspiriert von Glomsers Stimme,
gesättigt vom andauernden Festmahl des Tages, gewärmt vom Wein der Prozession,
füllten wir in diesen ersten Sätzen die Kirche mit unseren Tönen, sodass die
Fenster mit ihnen klangen. Ulrich hatte in meiner winzigen Gestalt Platz
geschaffen, und ich musste nicht darum kämpfen, unter diesen Männern gehört zu
werden. Meine Stimme mischte sich mit denen der anderen Solisten, so wie sich
kostbarer Farbstoff in Wirbeln im Wasser auflöst, und ich wusste, dass meine so
schön war wie jede andere, die in der Kirche widerhallte, selbst als die klare
Kraft von Bugattis Stimme uns alle in ihren Bann schlug. Wenn ich nicht sang,
schloss ich die Augen und hörte seine Stimme in meiner Brust klingen. Wenn er
still war, öffnete ich die Augen, spähte durch das Gitter und suchte vergeblich
nach Amalias Gesicht, dem einzigen, das ich in dieser Menge sehen wollte. Aber
ich konnte sie
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