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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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Als ich wieder zum Gitter blickte,
hatte Karoline Duft Amalia in die Menge zurückgezogen.
    Ich verdoppelte meine
Anstrengungen. Ich versuchte nicht mehr nur, meine Leidenschaft für die Klänge
der Welt auf die gleiche Weise zu zerstören wie einen Baum, dem man das Wasser
entzieht – jetzt wollte ich in diesen Baum den Blitz einschlagen lassen und ihn
zu Asche verbrennen. Ich bat Gott, jeden Klang mit Schmerz zu vermischen, damit
ich jede Note verabscheute, die ich hörte. An Feiertagen trank ich einige
Schluck Teerwasser, damit mir übel war, wenn die besten Sänger sangen. Ich aß
nicht. Ich lief in meinem Zimmer hin und her, damit ich nachts nicht schlief
und träumte. Eines frühen Morgens dann, als ich meine Leidenschaft nicht
beherrschen konnte und meine Erinnerung mich mit köstlichen Symphonien halb
vergessener Klänge in Versuchung führte, zerschmetterte ich wütend meinen
Spiegel. Ich benutzte die scharfen Splitter, um mir die Arme aufzuschlitzen.
Bald troffen meine Hände vor Blut, sodass ich keinen Splitter mehr halten
konnte, aber für einen Augenblick, einen gesegneten Augenblick, war ich fast zufrieden.
    Aber ich konnte meine Ohren genauso
wenig besiegen, wie ich meinen Atem so lange anhalten konnte, bis ich starb.
Mein Herz schlug immer noch wie eine Trommel und markierte die Sekunden meines
Lebens. Nachts wachte ich auf, und im halbwachen Zustand riss ich mich los und
begrüßte das Klappern des Fensters wie eine geliebte Stimme. Oder schlimmer
noch: Ich erwachte plötzlich aus einem Traum von den Glocken meiner Mutter oder
von Nicolais grollendem Bass und stellte fest, dass mein Bettzeug schweißnass
war und das Echo meines Traumes immer noch in meinen Ohren klang. In diesen
Momenten machte ich die Augen zu und schloss die Bibliothek meiner Erinnerung
auf, und meine Fantasie kostete die Freuden jedes Klanges aus, den ich je
gehört hatte. Mein Herz schwang sich in die Höhe. Die Hoffnung, dass ich in
dieser schönen Welt glücklich sein könnte, erwachte von Neuem in mir.
    Bis ich die Augen öffnete und mich in
meiner Zelle, in meinem Gefängnis, in diesem unvollkommenen Körper wiederfand
und mich für meinen Traum verabscheute.
    Eines Nachts entschloss ich mich,
den letzten Schritt zu tun. Ich stahl einem Mönch eine Schreibfeder. Ich setzte
mich auf mein Bett; außer dem Mondschein, der als Tümpel auf den Fußboden fiel,
gab es in meinem Zimmer kein Licht. Immer wieder drehte ich die Schreibfeder in
meinen Händen hin und her und stellte mir vor, wie ihre goldene Spitze meine
Trommelfelle durchbohrte. Ich saß lange Zeit dort und wartete auf einen Grund,
nicht zu tun, was ich mir vorgenommen hatte, aber statt zu rebellieren,
schienen die Klänge meiner Erinnerung langsam zu schwinden; zum ersten Mal,
seit ich damit begonnen hatte, sie niederzukämpfen, fügten sie sich. Die Abtei
und die Stadt wurden in den frühen Morgenstunden still und es schien mir, als
sei das Flüstern des Holzstabs, der durch meine Finger glitt, das einzige
Geräusch auf der Welt.
    Als meine Ohren den Kampf ganz
aufgegeben hatten, hob ich die Schreibfeder an mein rechtes Ohr und schickte
mich an, mich selbst mit einem Stich in die Stille zu schicken.
    Dreimal in meinem Leben rief meine
Mutter mich mit einer Glocke. In dieser Nacht geschah es zum ersten Mal: Die
Glocke der Abtei schlug zwei. Zwei durchdringende Schläge, gerade als ich den
feinsten meiner Sinne zerstören wollte. In der öden Stille der Welt erweckten
diese beiden Schläge meine Ohren wieder. Sie klammerten sich noch zehn, zwanzig
Sekunden an das Verklingen des Läutens, bis ich aus der fernen Stadt nur noch
ein schwaches Echo hörte.
    Taub wäre ich gewesen, genau wie du, Mutter.
    Ich hörte das Flüstern ihrer tanzenden
Füße auf dem Holzboden. Ich hörte ihren Körper mit ihren Glocken läuten. Ja,
ihr Gefängnis war schlimmer gewesen als meines! Mein böser Vater lauerte Tag
und Nacht in ihrer Nähe. Und doch hatte sie sich an jedem Klang erfreut, den
sie mit den Fasern ihres Körpers aufnehmen konnte. Und ich – gesegnet mit
vollkommenen Ohren – war jetzt bereit, diese zu zerstören.
    Die Schreibfeder fiel klappernd auf
den Boden. Ich starrte sie an, als wäre sie ein blutbeschmiertes Messer.
Plötzlich war die Luft in meinem engen Zimmer so stickig, dass ich nicht atmen
konnte. Ich riss die Tür auf, aber der Korridor erschien mir noch beengter. Die
Wände und die Decke kamen immer näher. Ich machte kehrt, rannte durch mein
Zimmer und sprang

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