Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
ans Fenster. Ich konnte kaum meine Schultern
hindurchquetschen. Die Nachtluft war so süß, der Himmel so weit entfernt. Ich
stillte meinen Durst an der kühlen Sommernacht, aber immer noch wollte ich
fliehen. Ich kletterte hinaus, hockte mich auf den Sims und klammerte mich an
den Holzrahmen, um nicht in den Kreuzgang weit unter mir zu stürzen. Der
unendliche Raum über mir zog mich weiter aus meinem Gefängnis. Ich musste frei
sein! Ich ließ los und kroch auf den Ziegeln des steilen Dachs nach oben, bis
ich keuchend auf dem First lag.
Die weiße Abtei leuchtete im
Mondschein. Die Straßen der Stadt waren schwarze Klüfte zwischen den Reihen
grauer Dächer. Ich lauschte auf die Welt.
Irgendwo sprang ein nicht
festgemachter Fensterladen auf und krachte gegen ein Haus. Ein Hund bellte.
Eine Ratte huschte über die Straße und blieb stehen, um etwas Verfaultes zu
fressen. Flüssigkeit rann zwischen den Kopfsteinen hindurch und plätscherte in
die Gosse. Schritte knirschten in einem Haus. Der leichte Wind summte, als er
sich durch die Alleen schlängelte. Irgendwo öffnete sich eine Tür und wimmerte
in ihren Angeln. Ratten und Katzen und Hunde beherrschten die warme Nacht, nagten
an Abfall, gingen aufeinander los. Ich hörte die Stadt schlafen. Ich hörte das
schwere Atmen von dicken Männern, das Seufzen von Frauen. Ich hörte Schnarchen.
Ich hörte, wie Leute im Schlaf von ihren Sehnsüchten murmelten.
Die Welt war wieder groß und ich hatte
Ohren für jeden Laut.
VII.
Ich hätte ein großer
Fassadenkletterer werden können, wenn Gott mir die Liebe zum Silber statt der
Liebe zum Klang geschenkt hätte.
Jede Nacht entfloh ich meinem
Gefängnis – und fand bald heraus, dass ich nicht der Einzige war. Geh und sieh
dich in jedem der so genannten großen Klöster Europas um. Du wirst feststellen,
dass es zum Beispiel unter einem Tor eine leichte Höhlung im Boden gibt oder
dass an einem Fenster in nicht allzu großer Höhe ein Schloss verbogen ist. Und
dann gibt es in den Kellern geheime Gänge und verborgene Türen, die angeblich
nur dem Abt bekannt sind, aber natürlich werden sie von jedem Mönch gefunden,
den Lust oder Neugier treiben – und alle von uns wurden von etwas getrieben,
alle außer jenen, deren Seele verkümmert war.
Bei schlechtem Wetter riskierte ich
einen der Wege, den auch andere Mönche benutzten. Ich zog einen Tunnel in den
mittelalterlichen Fundamenten der Ställe vor, der über Jahrhunderte von
Stalljungen ausgehöhlt worden war, die zu faul gewesen waren, den langen Weg
zum Tor zu nehmen. Aber wenn kein Regen oder Schnee gefallen und der Boden
trocken war und der Wind nicht allzu heftig blies, kletterte ich aufs Dach.
Zuerst machte ich nur kleine, ängstliche Schritte auf den gerundeten Ziegeln
des Firsts, später hüpfte ich ihn entlang. Am Ende des Flügels angelangt, kroch
ich das Dach hinunter und ließ mich auf den mittelalterlichen Turm fallen, das
letzte Überbleibsel der alten, unvollkommenen Abtei. Dort ging ich unter den
Fenstern der Gemächer des Abtes vorbei, wo von morgens früh bis spät in den
Abend eine Lampe leuchtete. Gott sei Dank kam der Abt nie an sein Fenster, um
über die Unvollkommenheit der Welt nachzudenken.
Ich flitzte über die Krone der Mauer
zwischen der Abtei und der protestantischen Stadt. Die Häuser waren direkt an
die Mauer gebaut worden, sodass ich nur über die unebenen Dächer nach unten
gleiten und auf den Boden springen musste.
Dann war ich frei.
Meine Freiheit beschränkte sich
natürlich darauf, mich zu verstecken, das aber in jedem Schatten, der mir
gefiel. Ich hatte eine Kukulle gestohlen und zog mir die Kapuze tief in die
Stirn, damit niemand mein blasses Gesicht leuchten sah. Ich richtete meine
Ohren auf Schritte, die sich näherten, auf Schlüssel, die sich in Schlössern
drehten, auf schlaflose Seufzer, die aus offenen Fenstern kamen. Das Läuten der
Kirchenglocken war mein Kompass, und jede Stunde prüfte ich ihre Lautstärke und
ihren Ton, um meine Position zu bestimmen. Ohne sie wäre ich in den
verwinkelten Straßen verloren gewesen, da ich mich nicht an den Geräuschen des
Tages orientieren konnte, die mich und Remus zum Hause Duft geführt hatten.
Landschaften des Klangs sind aus
Schichten zusammengesetzt wie Gemälde. Der Wind bildet das Fundament. Streng
genommen ist er kein Klang, aber er schafft Geräusche, wenn er die Stadt
durchstreift: Er bringt unbefestigte Fensterläden zum Klappern, summt in
Schlüssellöchern, lässt
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