Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
Geräusche hörst, die sie macht. Bleib nicht in der
Diele stehen, sondern steig die Treppe hinauf und kriech über den Boden, bis du
dein Ohr an eine Tür legen kannst. Oder noch besser: Du findest die Bewohner
vor, während sie sich noch waschen, dann kannst du dich unter ihrem Bett oder
in ihrem Schrank verstecken. Du kannst aber auch auf ein Dach klettern und die
Ziegel anheben, bis du ein Loch findest, durch das du die Geräusche unter dir
ausbeuten kannst. Nur Gespenster, Engel und Diebe haben das Recht auf Arien.
Das Weinen hat tausend Formen: das
bedürftige Jammern des Babys, das kränkliche Stöhnen, das einsame Schluchzen.
Einige weinen in ein dämpfendes Kissen oder pressen eine Faust an die Zähne,
sodass sie ihre Traurigkeit herausschnauben. Es gibt Arten von Traurigkeit, die
aus Tränenfluten und Rotz bestehen. Es gibt den trockenen, krächzenden Kummer,
der Herzen verdorren lässt. Traurigkeit kann klingen, als würde ein ungewolltes
Kind geboren. Sie kann auch überraschende Formen annehmen: Der stoische alte
Mann sabbert vielleicht und schlägt sich an die Stirn, während der Kummer
seiner zarten Enkelin sie nur erschaudern lässt.
Die Geräusche des Hasses – sie gehören
zu jeder Nacht – erscheinen in ihrer spektakulärsten Form wie die Schreie und
klirrenden Schwerter, die auf der neapolitanischen Bühne so trefflich in Szene
gesetzt werden. Der wütende Schlag und die betrunkene Faust spielen auch eine
Rolle, und sie sind weitaus verbreiteter. Beleidigung und Vorwurf gehören zum
Schlafzimmer wie das Bett. Ich hörte Knochen brechen, Blut auf den Boden
tropfen, Kleider zerreißen. Und obgleich ich einem Schluchzen stundenlang
lauschen konnte – vor der Tiefe der Trauer auf dieser Welt habe ich immer
großen Respekt gehabt –, musste ich mir in die Hand beißen, wenn Schläge und
Beleidigungen ins Spiel kamen, denn sonst hätte ich es nicht ausgehalten.
Aber natürlich lebt die Oper für die
Liebe: Für sie erbaut sie in jeder Stadt ihre Tempel. Bald glich ich jenen
zahlreichen italienischen Männern, die eine Woche lang auf das Abendessen
verzichten, um sich eine Eintrittskarte leisten zu können. Für die Erhabenste
von allen nahm ich jede Anstrengung auf mich: die Arie der Liebe. Ich kroch in
Schlafzimmer, versteckte mich in Wandschränken (und kam erst wieder heraus,
wenn die Liebenden schließlich eingeschlafen waren). Das scheue Kichern. Das
drängende Murmeln. Das Flüstern einer Hand auf nackter Haut. Das Angleichen der
Atemzüge. Das warme Ausatmen, bis es zu sagen scheint: Heiß! Heiß! Heiß! Der Kuss,
dessen Intensität sich verstärkt, wenn er von Lippe zu Hals zu Brust wandert.
Hier sollte ich aufhören. Den Vorhang
zuziehen. Die Liebe ist auf Europas Bühnen nur erlaubt, weil ihre
unanständigsten Laute ins Italienische übersetzt wurden. Obwohl der Papst das
klagende Liebeslied des Kastraten mit Gold belohnt, findet sich eine Frau im
Gefängnis wieder, wenn sie sich in Anwesenheit des Heiligen Stuhls die Hand
zwischen die Beine legt und stöhnt. Aber ich muss dir von diesen verbotenen
Geräuschen erzählen, denn das Belauschen der Liebe half mir am Ende
herauszufinden, was ich war – und was mir fehlte. Wenn die Küsse zu Berührungen
wurden und sich dem Atem andere stetige Rhythmen zugesellten (wenn das Kopfteil
des Bettes zur Trommel wurde, wenn die Laken raschelten, wenn die Seufzer
gleichzeitig ausgestoßen wurden), verabschiedete ich mich nicht. Meine Ohren
verfolgten die Geräusche der Körper genauestens, so wie eines von Herrn Dufts
Mikroskopen das Auge eines Flohs fokussierte. Ich hörte das Knacken
eingerollter Zehen, das Kneten von Brüsten und Hinterteilen, das wie das
Zuziehen eines Ledergürtels klang. Trockene Haut rieb sich Brust an Brust, der
Schweiß machte sie glitschig, bis es klatschte und das Knirschen von Rippe an
Rippe zu hören war.
Der Liebesakt ist wie das Singen. Beim
ersten Atemzug – dem ersten Stoß – ist der Körper noch nicht für den Klang
empfänglich. Seufzen und Stöhnen ersticken im Hals. Aber wenn sich das Tempo
steigert, strahlt die Freude aus und der Körper stimmt sich darauf ein. Bald
dringt das Seufzen in die Brust, und obgleich es vielleicht nicht lauter wird,
wird es voller; die Stöhnende stöhnt bis in die Fingerspitzen.
Damals konnte ich nicht wissen, dass
man bei der Liebe eine Magie verspürt – ebenso wenig wie ich die Schwingungen
des Falkenflügels im Höhenflug verstanden hätte –, und deshalb dachte
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