Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
Vom Netzwerk:
ich
zunächst, es sei dieses Lied, das die Liebenden suchten. Sie bewegten sich
zusammen, stöhnten zusammen, zogen zusammen die Luft ein. Sie flüsterten sich
gegenseitig Ja! Ja! ins Ohr und bebten bei ihrem gemeinsamen Gesang von Kopf bis Fuß. Wenn sie
zur Ruhe kamen – stumm, abgesehen vom Rasen ihres Atems und ihrer Herzen –,
hörte ich, dass ihre Ekstase dieselbe war wie meine beim Singen: Körper, die
auf einen einzigen Zweck ausgerichtet waren und von der Schönheit widerhallten.
    Der Klang der Liebesarien ließ mich
schließlich verstehen, was Nicolai mir vor so vielen Jahren erzählt hatte, als
ich mit ihm auf seinem Pferd saß: über die Vereinigung von zwei Hälften in der
Liebe. Ich verstand es, als ich in jenen Häusern die ekstatischen Schreie
hörte, und auch, weil ich meine eigene Seele ausrufen hörte: Bitte! Bitte! Ich möchte auch geliebt werden! Ich möchte auch ganz
sein! Aber so verstand ich auch meine
Tragödie: dass wegen meines Makels Liebe für mich unmöglich war. Schlagartig
bekam der Tausch, den ein Musico macht, einen Sinn. Wir haben dieses Lied der
Vereinigung aufgegeben für ein Lied, das wir allein singen müssen.

VIII.
    Während meiner nächtlichen
Streifzüge kam ich oft an einem Haus vorbei, das zu erforschen mich verlangte,
das ich aber nie betrat: Haus Duft. Selbst von draußen hörte ich die Echos
seiner faszinierenden Geräusche und wusste, dass ich mich in seinen labyrinthischen
Gängen verlaufen könnte oder – schlimmer noch – zum Irrglauben verleitet würde,
ein Raum sei leer, nur um festzustellen, dass hinter der Tür die böse Tante
Karoline lauerte.
    Aber manchmal verharrte ich eine Weile
im Schatten und beobachtete ein erleuchtetes Fenster, weil ich hoffte, einen
Blick auf Amalia zu erhaschen. Und was, wenn sie erschienen wäre? Was, wenn sie
in die Nacht hinausgeblickt hätte? Nur das: Ich wäre noch weiter in die
schützende Dunkelheit zurückgewichen.
    Aber vor Haus Duft entdeckte ich eines
Nachts, dass ich nicht das einzige Gespenst der Stadt war.
    Ich stand im Dunkeln, blickte auf ein
erleuchtetes Fenster und hoffte wie immer, den Schwung von langem hellem Haar
oder einen hinkenden Schatten zu entdecken. Meine Ohren flitzten von einer
huschenden Ratte über raschelnde Blätter zu einem Huhn, das seinem Stall
entkommen war und ziellos durch die Straßen wanderte.
    Plötzlich sah ich aus dem Augenwinkel
eine Gestalt, die blitzschnell in einem Eingang verschwand. Es schien
unmöglich, aber diese Gestalt machte kein Geräusch. Ich wich tiefer in den
Schatten zurück und wartete. Ich hörte nichts. In der Annahme, mein Blick hätte
mich getäuscht, lief ich die Straße hinunter, um in die Abtei zurückzukehren.
Kurz bevor ich um eine Ecke bog, sah ich zurück. Eine dunkle Gestalt bewegte
sich geräuschlos an den Häusern vorbei, in denen kein Licht mehr brannte. Sie
gab überhaupt keinen Laut von sich, den ich hören konnte. Für mich war das so
erschreckend, als hätte ich einen Mann durch eine solide Mauer treten sehen.
    Ich floh.
    Ich rannte eine Gasse hinunter, bog in
eine andere und wieder eine andere, bis ich sicher war, dass ich die lautlose
Erscheinung abgeschüttelt hatte. Es war Herbst, und die mit Läden
verschlossenen Fenster ließen den schlafenden Atem der Stadt nicht hinaus. Ich
hörte nur die Geräusche des Verfalls, die von der Kälte gedämpft wurden, und
das Pfeifen und Seufzen des Windes. Weiter hinten in der Gasse, aus der ich
gekommen war, war ein Fenster erleuchtet. Es würde jeden verraten, der in meine
Nähe kam. Das war ein Landstreicher, sonst nichts, sagte ich mir. Der Wind hat
seine Geräusche davongetragen. Ich bin das einzige Gespenst der Stadt.
    Dann hörte ich jenseits des Fensters
das grobe Klopfen von Holz auf Stein. Ich lauschte nach Schritten oder
Atemzügen. Ich hörte nichts als das Klopfen. Es wiederholte sich vollkommen
regelmäßig wie das Ticken des Uhrwerks in Staudachs Nordturm.
    Ich erblickte den Umriss eines Mannes.
Er krümmte sich zu einer Seite und hinkte schnell die Gasse hinunter. Er trug
ein langes, schwarzes Gewand. Eine Kapuze verhüllte sein Gesicht. Er klopfte
mit seinem Stock auf die Straße, und ich erkannte, dass er blind war. Dann
blieb er vor dem beleuchteten Fenster stehen. Er richtete sich auf und wandte
den Kopf hin und her, er lauschte.
    Diese Bewegung hatte etwas Vertrautes;
ich kannte den Mann. Er war tatsächlich ein Gespenst.
    Ich rannte. Ich bog in schmale Gassen
ein, ohne zu wissen, wohin

Weitere Kostenlose Bücher