Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
das Blechmesser pfeifen, das als Ladenschild über der
Schlachterei hängt. Mit dem Wind kommen die anderen Geräusche des Wetters: Der
Regen prasselt auf die Kopfsteine, er tropft von Dachvorsprüngen, er rauscht in
Gossen. Eisregen zischt. Schnee dämpft andere Geräusche unter seiner Decke. Die
Erde bewegt sich. Häuser knarren.
Darüber liegen die Geräusche, die sich
von der Stille des Sterbens und des Verfalls nähren: die Kiefer von Ratten,
Hunden und Maden; die sprudelnden Bäche von Waschwasser und Urin, die in
Abflüssen dampfen; die Berge von verfaulenden Essensresten, die zu rascheln
beginnen, wenn man geduldig hinhört; die Haufen von warmem Dung, die bei der
Verwesung brutzeln; das Flattern fallender Blätter; die Erde, die sich auf
einem frischen Grab absenkt. Im Zwielicht tut sich geflügeltes Ungeziefer an
dem gütlich, was tot ist oder stirbt: das Flattern der Fledermaus, das plumpe
Klatschen der Flügel einer landenden Taube, der Tenor der Stechmücke, das
verzückte Summen der fetten Fliege, wenn sie von Kot zu Urin hüpft. Kein Laut
war hässlich. Ich legte mein Ohr auf Gräber. Ich hockte mich vor Dunghaufen.
Ich folgte dem Strom des Urins in den Gossen.
»In einer Oper, Moses, gibt es zwei
Arten von Gesang«, hatte Nicolai mir eines Abends vor Jahren mitgeteilt. Er war
in seiner Zelle hin und her gelaufen und hatte ein Glas Wein durch die Luft
geschwenkt, wobei tiefrote Tropfen auf den kostbaren hellen Teppich spritzten.
»Pass auf, Moses, du wirst das in Zukunft brauchen. Rezitative, die erste Art, treiben die Geschichte voran. Manchmal
beginnt und fließt die Musik in Rezitativen wie gesprochene Sprache. Wir hören
Informationen, von denen der Komponist glaubt, dass wir sie benötigen.« Er
hielt einen Finger in die Höhe. »Bei Rezitativen schlafe ich manchmal ein. Aber
das ist nicht schlimm. Man braucht sich deswegen nicht zu schämen. Denn niemand
geht in die Oper, um Rezitative zu hören, mein Freund. Man geht wegen der Arien
in die Oper. Die Arien rütteln mich auf. Reine Leidenschaft, reine Musik –
nichts sonst.«
Ich hatte mir diese Belehrung gemerkt,
ohne zu glauben, dass ich sie jemals brauchen würde, schon gar nicht außerhalb
eines Theaters. Aber bei meinen nächtlichen Ausgängen stellte ich bald fest,
dass ich die menschlichen Geräusche der Nacht in Nicolais zwei Kategorien des
Operngesangs aufteilen konnte. Auf der Bühne des Lebens kann man in einer
warmen Nacht auf der Straße Rezitative hören, und im Winter braucht man nur
durch ein Fenster zu klettern oder ein Schloss aufzubrechen und in die Diele zu
treten. Diese Rezitative sind wie ihre Geschwister in der Welt der Oper die
Geräusche, die unser Leben vorantreiben. Sie sind das Schnarchen, das
regelmäßige Atmen, das Krächzen, das Stöhnen, wenn man sich auf die andere
Seite rollt, das Murmeln im Schlaf. Sie sind das Zischen über einem Nachttopf,
das Trompeten einer verstopften Nase. Sie sind das Holzhacken und das
Feuerschüren im Winter, das Teigkneten in den dunklen Morgenstunden. Die
Rezitative unserer Nächte sind die schlaflose Hand, die eine Seite umblättert,
die schlaflosen Füße, die hin und her laufen. Sie sind ekelhaft. Sie sind
langweilig. Sie wiederholen sich ständig, werden nicht beachtet, nicht gehört.
Sie sind notwendig.
Viele Wochen lang hörte ich diesen
Geräuschen zu. Ich saß auf leeren Treppen, aß einen Happen in leeren Küchen,
während die Bewohner oben schliefen. Ich schlich mich in Kinderzimmer, beugte
mich über Wiegen und ließ mich von den weichen, beruhigenden Atemzügen
mitnehmen. Je länger ich diesen Geräuschen lauschte, desto kleiner wurde ich;
die Welt wurde groß – und was für ein Trost das für mich war! Ich wurde zu
einem Gespenst. Nicht Hände und Füße und nacktes Fleisch interessierten mich.
Ich wollte nur Klang. Ich glitt durch Fenster und kroch über Flure und fühlte
mich so unschuldig wie die Engel, die in unseren Träumen vorbeischauen.
Es dauerte mehrere Wochen, bis ich
eine weitere Schicht ausmachen konnte: die Arie der Nacht. Um sie zu hören,
muss man Glück haben oder sehr kühn sein. Denn die Menschen verbergen diese
Geräusche, wie sie die intimsten Stellen ihres Fleisches verbergen. Um in einer
heißen Nacht eine Arie zu hören, musst du dich an einem offenen Fenster
hochziehen. Oder – wenn es kälter ist – eine unverschlossene Tür finden oder
lernen, ein Schloss zu öffnen, indem du vorsichtig eine Nadel hineinschiebst
und dabei genau auf die
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