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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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auf«, sagte ich.
    Sein Kopf hob sich, als könne er mich
mit seinen leeren Augen sehen. »Deine Stimme ist immer noch ganz dieselbe, aber
stärker.«
    »Schließt auf«, sagte ich.
    »Gehst du, wenn ich aufschließe?«
    »Wenn ich will.«
    Er überlegte einen Augenblick, dann
schloss er die Tür auf. Er kam zu mir, streckte die Hand aus, bis er meine
Brust fand, und ließ den Schlüssel in meine Tasche gleiten.
    »Das ist dein Schlüssel«, sagte er.
»Dies ist dein Haus. Wenn du willst.«
    »Ich will nicht.«
    Er sagte nichts. Die Kohle knisterte
im Ofen wie Eis.
    Ich ging an ihm vorbei zur Tür. Wir
wandten einander den Rücken zu, als er sprach.
    »Als ich mich genug erholt hatte, um
laufen zu können, gab Abt Coelestin mir einen Sack voll Gold. Er sagte, er
würde mich für deine Kastration hängen lassen, wenn ich je in diese Stadt
zurückkäme. Dann schickte er mich nach Zürich. Ich wurde aus dem Wagen gestoßen
und am See zurückgelassen. Ich hatte noch nicht einmal einen Stock. Ich hörte,
wie der Wagen verschwand. Ich hörte die Wellen auf dem See. Pferde, die
vorbeikamen. Verkäufer auf dem Markt. Ich habe nie eine so leere Welt gehört.
Wenn ich eine Pistole gehabt hätte, hätte ich sie mir an den Kopf gehalten.«
    Ich hörte das Flehen in seiner Stimme,
aber trotzdem griff ich nach dem Türknauf.
    Ulrich fuhr fort: »›Eine Kutsche‹,
rief ich. ›Holt mir eine Kutsche!‹«
    Beim Klang der eisigen und
erwartungsvollen Stimme meines Lehrers lief es mir kalt den Rücken herunter. Er
machte zwei Schritte auf mich zu. Ich verspürte vor seiner sanften Berührung
einen ebensolchen Abscheu wie als Kind.
    »Moses, Nicolai hätte mir meine Ohren
nehmen sollen! Er hätte sie abschneiden können, und ich hätte ihm unter
Schreien gedankt. Aber Blindheit ist der Fluch des Teufels! Ich kann nur noch
hören. Ich höre Ameisen über meinen Boden krabbeln. Ich höre, wie sich die Erde
unter meinen Füßen senkt. Ich höre meine Narben eitern, wenn ich zu schlafen
versuche. Ich höre dich, Moses. Auch ich wandere in der Nacht herum, denn auch
ich muss versteckt bleiben. Ich bin dir gefolgt. Ich habe deinen Schritt
gehört, deinen Atem. Den Atem, den ich dich gelehrt habe.«
    Ich drehte mich um und sah Tränen
fließen, wo früher seine Augen gewesen waren. Er streckte die Hand aus, als
wolle er meinen Arm berühren. Ich schreckte zurück.
    »Aber was gibt es zu hören? Ich habe
einmal Schönheit in dieser Welt gehört, und die Geräusche dieser schrecklichen
Stadt erinnern mich jeden Augenblick daran, was ich verloren habe. Moses, ich
möchte dich so gerne wieder singen hören. Bitte.«
    Er machte eine Pause. Ich konnte die
Augen nicht von seinem verbrannten Kopf abwenden, der im Schein der Kohlen
purpurrot leuchtete. Er wischte sich die Tränen vom Gesicht.
    »Moses, bitte …«
    »Ich singe nicht mehr«, sagte ich
knapp. »Der Abt hat es verboten.«
    »Der Abt ist ein Narr.«
    »Der Abt war gut zu mir«, sagte ich
mit Wut in der Stimme. »Er hat mich zum Novizen gemacht. Eines Tages werde ich
Mönch sein.«
    Ulrich öffnete den Mund, um etwas zu
sagen, aber dann besann er sich. Sein Gesicht zuckte, als er bedachte, was ich
gesagt hatte.
    »Das ist … ein Glück … für dich«,
sagte er, aber ich hörte an seinem Zögern, dass er seine wahren Gedanken
verbarg. »Du willst also hierbleiben? Für immer in dieser Stadt?«
    »Wohin soll ich sonst gehen?«
    Ich sah das Erstaunen auf dem Gesicht
des blinden Mannes, aber er verbarg es schnell. »Der Abt ist sehr großzügig«,
sagte er. »Die Welt ist schwierig für solche wie dich. Die Abtei hat dir großen
Luxus zu bieten.«
    »Ich wünsche mir keinen Luxus. Ich
möchte nur in Ruhe gelassen werden.«
    »Gut«, sagte er. Er nickte. Eine
zitternde Hand fand meinen Ärmel, griff aber so leicht zu, dass ich mich hätte
befreien können. Mit der anderen Hand tätschelte er meinen Arm wie ein Onkel,
der ungeübt im Umgang mit Kindern ist. »Moses«, fuhr er fort. »Ich will dir die
einzige Sache anbieten, die der Abt dir nicht geben kann. Dann hast du alles,
was du begehrst. Du wirst für immer zufrieden sein.«
    »Was hättet Ihr mir anzubieten?«
    »Sing«, sagte er sehr leise.
    Ich zog meinen Arm ruckartig weg und
wich mehrere Schritte zurück.
    »Bitte, hör zu«, sagte er leise und
mühte sich, seine Leidenschaft zu bändigen. Er schlurfte auf mich zu und
versuchte, mich wieder festzuhalten. »Bitte, sing hier. Hier in diesem Haus. In
der Nacht, statt durch die

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