Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
Straßen zu streifen. Ich werde dir nicht
vorschreiben, was du singen sollst. Ich werde nicht sprechen. Ich werde nur
dasitzen und zuhören.«
Ich öffnete die Tür.
»Bitte, Moses. Sing«, flüsterte er wie
ein Gebet.
Ich drehte mich um, um ihn anzusehen.
Ein letztes Mal, wie ich hoffte. Dann sagte ich: »Wie könnt Ihr das verlangen?«
»Moses!«
»Ihr habt mich zerstört.«
»Ich … ich … hatte keine …« Er konnte
seinen Satz nicht zu Ende bringen.
»Ich werde nie wieder singen«, sagte
ich. »Nicht für Euch. Für niemanden.«
IX.
Ich war das stumme Gespenst
der Stadt, spukte in den Straßen und Häusern, sammelte alle Laute außer meinen
eigenen, denn ich gab keine von mir. Ich war nicht zufriedener oder unzufriedener
als in der übrigen Zeit seit der Verbannung meiner Freunde. Ich hatte mich mit
meiner Lage und der Tatsache abgefunden, dass Gott die Gabe der Freude für
Menschen mit meinem Makel nicht vorgesehen hatte. Ich war erst neunzehn Jahre
alt, aber ich hatte mit der Welt bereits abgeschlossen. Und ich wäre am
heutigen Tag noch dort – ein betagtes, stummes Gespenst –, hätte mich nicht ein
Engel ins Leben zurückgeholt.
Meine Wiederauferstehung geschah
überraschend. Eines frühen Morgens glitt ich über das Dach der Abtei zu meinem
Fenster zurück und achtete darauf, kein Geräusch zu machen. Weich setzte ich
meinen Fuß auf den Sims und ging in die Hocke, wollte mich gerade auf mein Bett
herunterlassen. Ich verdunkelte die Fensteröffnung, sodass das Licht der Sterne
nicht in mein Zimmer drang.
Als mein Schatten auf den Boden fiel,
hörte ich ein Seufzen. Es war so leise, dass die meisten Menschen es nicht
wahrgenommen hätten, aber für mich war es so aufschlussreich wie ein Porträt.
Ich erkannte die Lungen, aus denen die Luft kam, den Hals, der den Ausdruck
formte.
Ich bewegte mich nicht. Meine Angst
wäre nicht größer gewesen, hätte ich einen Löwen gehört.
»Moses«, sagte sie. »Bist du das?«
Ich antwortete nicht. Ich hockte auf
meinem Fensterbrett und versuchte, eins mit der Nacht zu werden. Sie schritt
durch mein Zimmer. Genau wie ich trug sie eine schwarze Kukulle. Aber sie hatte
die Kapuze abgenommen. In der Dunkelheit konnte ich nur die Umrisse ihres
Gesichts und das Glänzen ihres goldenen Haares erkennen.
Ich stieg auf mein Bett und von dort
auf den Boden. Ihr Kopf reichte mir ans Kinn.
»Moses?«
Ich lauschte auf ihren Atem. Ihr
Ausatmen war feucht und warm.
»Sprichst du nicht mit mir?«
Ich hörte, dass sie sich auf die Lippe
biss.
»Wie dumm ich war«, sagte sie. »Ich
schäme mich so.«
Sie wandte sich zum Gehen. Ich
lauschte auf ihre Schuhe auf dem Boden. Ich hörte den Stoff auf ihrem Rücken
rascheln.
»Warte«, flüsterte ich so leise wie
als kleiner Junge.
Sie drehte sich um. Sie wartete. Ich
sprach nicht. Ich versuchte, ihr Herz zu hören. Das Geräusch war zu schwach, um
es von der anderen Seite des Zimmers wahrzunehmen, aber ich hatte zu viel
Angst, um einen Schritt zu machen.
»Warte«, sagte ich noch einmal. »Geh
nicht.«
Mehrere Sekunden lang standen wir
einfach im Dunkeln da.
»Hast du eine Kerze?«, fragte sie
schließlich. »Eine Lampe?«
»Nein.«
»Wie kannst du dann sehen?«
»Ich brauche nicht zu sehen.«
»Ich möchte dein Gesicht sehen«, sagte
sie. »Fünf Jahre habe ich durch diese schreckliche Pforte nur dein Auge und ein
paar Finger gesehen. Du bist so groß geworden.«
Ich schloss die Augen und wünschte
mir, die Welt würde stehenbleiben und mich mit Amalias Lauten zurücklassen.
»Möchtest du mich denn nicht sehen?«,
fragte sie.
»Ich habe dich gesehen«, antwortete
ich. »Jedes Mal, wenn wir miteinander gesprochen haben. Und letztes Jahr auch.
In der Kirche.«
Ich hörte, dass die Demütigung sie den
Atem anhalten ließ. Nach mehreren Sekunden sprach sie. »Wenn du da warst, warum
hast du mir dann nicht geantwortet?«
Jetzt antwortete ich ihr auch nicht,
weil ich ihr nicht die Wahrheit sagen konnte.
»Ich wollte dich sehen«, sagte sie.
»Ich will dich auch jetzt sehen. Es ist so lange her. Ich habe immer gedacht,
du bist mein Freund. Mein einziger Freund. Hast du mich vergessen?«
»Nein«, flüsterte ich. »Ich habe dich
ganz und gar nicht vergessen.«
Sie bewegte sich durch den Raum. Ich
versank in meiner Kapuze, damit sie mein Gesicht nicht sehen und an den glatten
Rundungen meinen Makel erkennen würde. Sie war nur ein paar Zoll entfernt.
Jetzt konnte ich ihr Herz hören wie eine Trommel. Jeder
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