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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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Schlag brachte einen
verkümmerten Teil von mir ins Leben zurück. Plötzlich fiel mir auf, wie klein
mein Dachzimmer war, dass mein Kopf fast die Deckenschräge streifte. Mit
ausgestreckten Armen hätte ich beide Wände berühren können. Meine Tunika war
plötzlich so eng, dass ich nicht atmen konnte.
    »Darf ich dein Gesicht sehen?« Sie
streckte eine Hand in die Höhe und berührte meine Kapuze. Ich ergriff die Hand,
damit sie mich nicht entblößen konnte.
    »Bitte nicht«, sagte ich. Als ich ihre
Hand freigab, ließ sie den Stoff los, aber ihre Hand blieb nahe an meinem
Gesicht.
    »Ich hätte nicht kommen sollen.«
    Ihr Atem hatte sich verändert. Er war
jetzt noch wärmer, ihr Hals war enger. Sie schluckte.
    »Vor Monaten habe ich in der Fabrik
meines Vaters diese Robe gestohlen. Ich nahm mir vor: Darin verkleide ich mich.
Ich nahm mir vor: Ich werde Moses besuchen. Ich habe das hier gefunden.
Erinnerst du dich daran?« Sie entfaltete raschelnd ein Stück Papier. Ich konnte
in der Dunkelheit wenig sehen; es war eine Art Zeichnung. »Das X bezeichnet
immer noch dein Zimmer.«
    Ich erinnerte mich an zwei naive
Kinder, die auf dem Korridor getuschelt hatten. Wie sehr ich mir wünschte, dass
wir wieder dort wären!
    »Moses«, fuhr sie fort, »wenn ich im
Bett liege und versuche, an eine schöne Sache in meinem Leben zu denken, denke
ich an dich. Einmal in der Woche, immer donnerstags, besucht Karoline ihre
Tante in Bruggen. Dann ist das Haus ganz leer – ich kann tun, was ich will. Ich
denke immer: Aber was will ich eigentlich tun? Zweimal bin ich schon mit dieser
Robe unter dem Arm bis zur Kirche gegangen, aber beide Male bin ich umgekehrt.
Heute Abend konnte ich das nicht. Ich bin über das Gitter geklettert. Ich glaube,
niemand hat mich gesehen, aber wenn doch, macht es mir nichts aus. Moses, wie
hätte ich nicht kommen können?«
    So standen wir mehrere Sekunden da,
ihre Hand war immer noch erhoben, als wolle sie mich segnen. Dann atmete sie
abgerissen ein. Als könne sie dem Drang nicht widerstehen, streckte sie die
Hand aus und ihr Finger berührte mein Kinn. Er fuhr über die Linie meines
Kiefers. Sie legte ihre Handfläche an meine Wange, dann ließ sie ihre Finger
über meine Lippen streifen, und ich spürte, wie mein warmer Atem von ihren
Fingern zurückgeworfen wurde.
    »Mein Gott«, flüsterte sie. »Ich bin
ein solcher Dummkopf.«
    Unsere beiden Herzen rasten. Ich hörte
die Feuchtigkeit ihres Mundes, als sie noch einmal schluckte. Ihre Hand griff
hinter mein Ohr. Finger strichen durch mein Haar, und dann zog sie mein Gesicht
zu sich und ich fühlte die Berührung ihrer Lippen. Meine Lippen erwiderten
ihren Kuss nicht, aber meine Ohren hörten jede Note dieses Kusses: wie sich
ihre Lippen öffneten, wie sie sanft an meinen zogen, wie sie losließen.
    Sie trat verlegen zurück. Aber als sie
einen weiteren Schritt machen wollte – vielleicht sogar, um für immer
wegzugehen –, hob ich die Arme. Eine Hand legte ich auf ihre Schulter, die
andere auf die Hüfte. Ich umarmte sie nicht, zog sie auch nicht zu mir heran,
sondern hielt sie einfach, wie ich eine zerbrechliche Kostbarkeit in der Hand
gehalten hätte.
    Sie atmete aus, und dann atmete sie
ein und wieder aus. Jeder Herzschlag, der dem vorherigen fast völlig glich, war
ein neuer und schöner Klang für mich, und unwillkürlich näherte ich mich ihr
noch weiter und meine Arme schlangen sich um ihren Rücken, damit ihre Klänge zu
mir gebracht würden. Sie seufzte, und das sanfte Summen in ihren Lungen ließ
mir einen Schauer der Ekstase über den Rücken laufen. Ich zog sie noch näher zu
mir heran. Ihre weichen Brüste pressten sich an meinen Oberkörper und ihre
Rippen berührten meine. Als sie noch einmal seufzte, ging die Vibration von
ihrem Körper auf meinen über und ich fühlte sie in meinen Lungen. Sie drückte
ihre Wange an meine Schulter, ihren Kopf unter meinen Kiefer. Jetzt wurde jedes
süße Ausatmen an meinem Hals gefangen.
    Ich konnte es nicht mehr aushalten.
Ich begann, einen einzigen Ton zu singen, leise zuerst, aber es fiel mir sehr
schwer, nicht die ganze Kraft meiner Lungen zu benutzen. Es war so lange her,
dass ich gesungen hatte – mehr als drei Jahre. Das vertraute Kribbeln des Tons
erstreckte sich von meinem Hals in meine Brust und meinen Kiefer, bis es in mir
klang. Der Gesang ging direkt aus meiner Brust in ihre über. Meine Stimme war
immer noch ein Flüstern, aber ich hörte ihre Resonanz in ihrem Hals, in

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