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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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zu Abend essen können, wäre er nicht mit Schmutz
verkrustet und mit Glasgefäßen und anderem Abfall bedeckt gewesen. Ich stellte
fest, dass verschiedene Messer und Pinsel darauf verstreut lagen und dass die
Glasgefäße mit Farben gefüllt waren – meistenteils unverschlossen und eingetrocknet.
Einige jedoch waren nicht geöffnet, und in diesen Gläsern hatte sich die Farbe
in Schichten abgesetzt, als wären es verschiedene Arten von Sand. An den Wänden
nahmen ungerahmte Leinwände allen Platz ein. Weitere Gemälde häuften sich in
den Ecken, vermutlich insgesamt hundert, und einige davon waren so groß wie das
Porträt von Staudach, das in der Bibliothek der Abtei hing, andere so klein wie
das Marienbildnis, das immer über Nicolais Bett gehangen hatte.
    Es waren Porträts. Jedes zeigte nur
ein einziges Gesicht, und ich konnte unmittelbar erkennen, dass sie alle von
derselben Hand gemalt worden waren. Die Pinselführung war nachlässig, und doch,
als ich meine Kerze vor den Leinwänden hin und her schwenkte, fühlte ich sofort
eine Vertrautheit mit den Bildern – stärker, als ich sie bei den meisten
lebendigen Gesichtern je empfunden hatte.
    Das Gesicht einer Frau insbesondere
tauchte immer wieder auf: hier groß, dort als Miniatur, hier trug sie ein
Ballkleid, dort, am Ende des Raumes beim Bett, nichts als ihre blasse Haut. Auf
diesem letzten Gemälde saß sie in förmlicher Haltung auf einem Stuhl, eine
Pose, die nicht zu ihrer Nacktheit passte. Ich starrte ihren unbedeckten Körper
an. Diese Frau – nein, dieses Bildnis einer Frau – ließ mich den Atem anhalten.
Ich hörte sie. War es ihre Stimme oder ihr Atem und das Reiben eines glatten
Schenkels am anderen? Ich hörte alle diese Laute in einem Ausbruch von Lärm,
der wie ein Sturm durch mich hindurchging.
    Ich blickte über die Schulter. War sie
hier in diesem Raum?
    Aber ich war allein.
    Plötzlich schien es laut zu werden.
Bei jedem Blick, den ich auf die Bilder warf, flüsterten sie mir etwas zu. Ich
räumte sie weg, drehte sie zur Wand, ließ aber drei Porträts von der
bezaubernden Frau stehen und auch das Bild, auf dem sie nackt dasaß.
    Ich warf die Glasgefäße und Pinsel
nach unten auf die Straße. Die Gläser zerbrachen mit einem vielfarbigen
Aufklatschen. In den Häusern auf der anderen Straßenseite wurden Kerzen
entzündet, und ich hörte eine Frau schreien: »Mein Gott! Der Geist!« Läden
wurden verriegelt, Ketten vor die Türen gelegt. Dann warf ich die Gläser gegen
die Fensterläden, und sie hinterließen grüne und blaue Streifen auf den Häusern
gegenüber. Ein Glas ging in die Irre und färbte den Brunnen rot wie Blut. Bald
hatte ich alles aus dem Raum entfernt außer den Bildern, dem langen Tisch und
dem Bett. Ich klopfte die Matratze aus, bis ein Nebel aus Staub das Zimmer
füllte.
    Eigentlich hatte ich Ulrich ignorieren
wollen, aber als ich wieder unten war, bemerkte ich die anatomische Perfektion
seiner Ohren, ein Kontrast, der in seinem ruinierten Gesicht unübersehbar war.
Plötzlich hob er den Kopf. Ich blickte in seine leeren Augen.
    »Er war Schneider wie sein Vater«,
sagte Ulrich. »Er hat den Leuten nie erzählt, dass er ihre Gesichter malte. Nur
seine Frau wusste es. Aber dann starb sie.«
    Tot?, dachte ich. Ich wusste
instinktiv, dass Ulrich von der Frau auf den Gemälden sprach. Wie kann sie tot
sein?
    »Sie starb im Kindbett und nahm das
Kind mit sich ins Grab. Er weinte nicht bei der Beerdigung, hat man mir
erzählt. Alle hielten ihn für herzlos.« Ulrichs leere Augen zuckten, als er
sprach. »Nach der Beerdigung ging er allein nach Hause, hierher, und schnitt
sich in eine Ader. Er nahm einen seiner Pinsel und malte ihr Bild mit seinem
Blut. Aber nicht auf eine Leinwand, sondern hier, in diesen Raum. Er bemalte die
Wände, den Boden, die Fenster.« Ulrich wandte den Kopf, als könne er die Reste
des Bluts sehen. »Sie fanden ihn auf dem Boden liegend, von Kopf bis Fuß voller
Blut, den Pinsel noch in der Hand. Die Leute behaupten, dass ihr Geist ihn dazu
gebracht habe – sie war böse, weil er nicht um sie geweint hatte. Keiner wollte
das Blut wegwischen.« Ich suchte nach Spuren von dem Blut des Malers auf dem
Boden und an den Wänden, aber der Raum war Zoll für Zoll säuberlich
abgeschrubbt worden. »Die Leute glauben, dass ihr Geist noch immer hier umgeht.
Als ich mich nach dem Haus erkundigte, flehte der Bevollmächtigte seines Vaters
mich an, es nicht zu kaufen. Er sagte, es wäre besser, es

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