Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
ihren
Rückenmuskeln, als wäre sie eine Glocke, die ich sanft mit einem ganz weichen
Filzhammer angeschlagen hätte.
Ich sang lauter und hielt sie fester.
Ich legte einen Finger auf jede Rippe ihres Rückens, sodass ich meine Stimme
spüren konnte, als sie durch sie hindurchging.
Und dann hörte ich Schritte auf dem
Korridor. Meine Stimme verstummte, als hätte sich eine Hand um meine Kehle
gelegt. Jemand hatte mich singen hören und stand auf dem Korridor, direkt vor
meinem Zimmer.
»Was ist los?«, flüsterte sie.
»Da ist jemand«, sagte ich.
Wer immer es war, er machte noch zwei
Schritte auf meine Tür zu und wartete. Ich hielt ihr einen Finger an die
Lippen.
Nach ein paar Sekunden machten die
Schritte kehrt und gingen über den Korridor zurück.
»Komm mit.« Ich führte sie ans Fenster.
»Nach dort oben?«
»Ich halte deine Hand fest.«
Ich kletterte hinaus, dann hob ich sie
hoch, bis ihre Füße auf der Fensterbank standen und sie in den Kreuzgang
hinuntersehen konnte. Ihre Hand umklammerte meine. Es war eine mondlose Nacht,
und mein Gesicht blieb verborgen. Die Stadt lag tiefschwarz um die weiße Abtei.
Der Brunnen im Kreuzgang plätscherte. Der Wind raschelte, als wäre das Dach mit
feiner Seide bedeckt. Eine Taube gurrte. Ein Karren rollte über eine Straße in
der Ferne.
Ich half ihr, zum Dachfirst zu
klettern, dann kamen wir auf die Füße und ich hielt ihre beiden Hände. Ich ging
rückwärts, sie vorwärts und ihr lahmes Bein schleifte nach. Wir glitten den
Turm hinunter, schlichen an den Fenstern des Abtes vorbei und krochen über die
Mauer, um in die Stadt zu gelangen. Haus Duft war der eine Ort, den ich ohne
Zögern finden konnte, denn ich hatte ihn im vergangenen Jahr fast jede Nacht
aufgesucht, obwohl ich das Haus nicht betreten hatte. Ich führte sie durch die
dunklen Straßen, fand meinen Weg mit Hilfe des Klangs meiner Füße auf den
Kopfsteinen und des leisen Rauschens des Windes. Wir flüsterten nicht einmal –
nicht, glaube ich, weil wir Angst hatten, gehört zu werden, sondern weil wir
beide das Gefühl hatten, es sei ein Traum und jedes Geräusch würde uns
aufwachen lassen. Sie hielt leicht meinen Arm, bis wir Haus Duft erreichten,
das ein schwarzer Schatten in der Nacht war.
Ich trat hinter sie, legte meine Hände
auf ihre Oberarme und flüsterte ihr ins Ohr: »An dieser Stelle. In einer Woche.
Ich werde da sein.« Ich schob sie sanft zum Gartentor und ließ sie los.
Sie drehte sich noch einmal um, aber
ich war weg. Ich war verschwunden wie ein Gespenst.
X.
In der Nacht nach Amalias
Besuch stahl ich mich zu Ulrichs Haus. Ich benutzte den Schlüssel, den er mir
in die Tasche gesteckt hatte. Ich klopfte nicht an. Weil alle menschlichen
Geräusche vollkommen fehlten, war ich zunächst sicher, dass der alte Mann an
seinem faulenden Fleisch gestorben war, aber als ich den Raum betrat, beleuchteten
die glühenden Kohlen im Ofen den früheren Chormeister. Er saß am Tisch. Seine
leeren Augenhöhlen waren auf seine Hände gerichtet. Er hatte sie
übereinandergelegt. Sein eiternder Schädel war unbedeckt.
Zwar zeigte er keine Reaktion, aber
ich war sicher, dass er mich gehört hatte. Er machte so wenig Lärm wie eine
Leiche. Ich hatte eine Kerze mitgebracht und entzündete sie an den Kohlen. Dann
stieg ich die Treppe hinauf. Sein Kopf bewegte sich nicht.
Eine Staubschicht auf der vierten
Stufe markierte die Reichweite der peinlichen Ordnung, die Ulrich hielt. Seit
einem Jahr oder länger war niemand weiter vorgedrungen. Im nächsten Stockwerk
gab es einen langen Korridor voller Gerümpel. Stühle, zusammengerollte
Teppiche, zerbrochene Bilderrahmen und Vasen und ein ganzer Haufen von
angelaufenem Silberzeug blockierten die vier Türen, die vom Korridor abgingen.
Bei näherem Hinsehen erwies sich, dass die Stühle und Teppiche und Bilderrahmen
eine Menge Flecken hatten. Schmutz? Blut? Ich würgte, trat schnell von dem
widerlichen Müll zurück und begab mich in das letzte Stockwerk, wo die Stufen
in einen Treppenabsatz mit einer Tür mündeten. Ich öffnete sie.
Unter dem Dach gab es einen einzigen,
langen Raum. Die Decke war schräg, sodass mein Kopf die Balken leicht streifte,
als ich zu den breiten Fenstern am anderen Ende ging. Überall lag Staub.
Neben der Tür gab es einen Ofen, der
nicht brannte, und beim Fenster ein altes Bett, das mit vergilbten Büchern und
Zeitungen übersät war. In der Mitte des Raumes stand ein rechteckiger Tisch, an
dem zehn Gäste bequem hätten
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