Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
niederzubrennen. Es
hat mich fast nichts gekostet.«
Ulrichs leere Augen waren auf mein
Gesicht gerichtet. »Mir machte das alles nichts aus. Ich hatte ja Zeit zum
Saubermachen – alle Zeit der Welt. Was ich nicht sehen konnte, konnte mir
keinen Ekel verursachen. Aber da ist so viel Blut. Egal, wie viel ich putze,
ich kann immer noch riechen, wie es fault. Ich spüre es in den Falten meiner
Finger.« Er streckte seine trockenen, rissigen Hände in die Richtung meiner
Kerze. Sie waren so weiß wie die Flecken in seinem Gesicht.
»Hast du seine Bilder gesehen?«, fragte
er.
»Ja.«
»War sie schön?«
»Ja.«
Ulrich nickte langsam, tief in
Gedanken verloren. »Weißt du, warum er es getan hat?«
»Er hat sie geliebt«, sagte ich.
Ulrich gab ein ausdrucksloses Kichern
von sich, ohne dabei zu lächeln. »Du bist wie der Abt«, sagte er. »Er wollte,
dass wir Gott lieben, aber stattdessen baute er eine schöne Kirche, die wir
lieben. Er hat dich singen lassen, und wir haben deinen Gesang geliebt. Moses,
wir lieben, was wir sehen, was wir hören, was wir berühren. Den Körper einer
schönen Frau im Kerzenschein. Den Klang deiner Stimme.«
»Aber dann vergehen diese Dinge«, fuhr
er fort, »und wir sind leerer als vorher. Wenn das Liebe ist, ist die Liebe
unser Fluch. Liebe ist wie das Blut, das aus der Ader dieses Malers tropfte,
Moses. Wir Liebende sind alle Narren. Besser wäre es, das, was wir lieben, zu
zerstören, bevor es zu spät ist.«
XI.
Aus der Besenkammer im
zweiten Stock der Abtei stahl ich alles, was ich brauchte, um den Raum unter
dem Dach abzustauben, zu fegen und zu wischen, bis die Farbkleckse, mit denen
die Dielen gesprenkelt waren wie mit den Malen einer unheilbaren Krankheit,
nicht weniger glänzten als Staudachs Blattgold. Ich stahl Laken, Federbetten,
Kissen und Tischtücher in der Abtei. Bald war der Raum unter dem Dach wieder
für Liebende bereit.
Bei meinen nächtlichen Besuchen
erwischte ich Ulrich zweimal, wie er auf den Knien lag und auf dem makellosen
Boden einen Fleck wegschrubbte, den es nur in seiner Vorstellung gab. Ich trat
einfach über ihn hinweg und unterbrach seine Arbeit nicht.
Eine Woche später, in der Nacht
unseres Stelldicheins, war es kalt und regnerisch – der Oktober zeigte sich von
seiner schlimmsten Seite. Ich schlich mich durch den Tunnel in den Ställen,
sobald die Stadt still genug geworden war, um ungesehen von Schatten zu
Schatten gleiten zu können. Verstohlen begab ich mich zu Ulrichs Haus und
entzündete die Kohlen im Ofen. Dann kehrte ich in die feuchte Nacht zurück und
umkreiste zwei Stunden lang Haus Duft, sah zu, wie nach und nach die Lichter in
den Fenstern erloschen, bis endlich die Uhr der Abtei Mitternacht schlug und
Haus Duft ringsherum in tiefe Dunkelheit gehüllt war.
Bald darauf jagte ich einer Küchenmagd
nach, die sich aus dem Haus schlich, um eigenen Liebeshändeln nachzugehen, aber
sehr schnell hörte ich an der Gleichmäßigkeit ihres Schritts, dass es nicht
meine Amalia war. Um eins verstärkte sich der Regen, und obgleich ich in
dunklen Ecken kauerte, die ein wenig Schutz boten, roch mein Habit schon bald
wie eine ganze Herde von Nebelmatter Schafen.
In meiner Erinnerung tritt sie wie
das Läuten einer Glocke in Erscheinung: Alle Töne ihres Körpers füllen die
Nacht mit plötzlicher Wärme. Meine Zähne hören auf zu klappern. Meine Zehen tun
nicht mehr vor Kälte weh. Aber meine Erinnerung muss mich trügen, denn ich
kenne den Klang besser. Es kann nur eine Andeutung gewesen sein: das Nachziehen
ihres lahmen Beines, die Drehung des Schlüssels im Gartentor, vielleicht mein
geflüsterter Name, der in die Nacht gehaucht wird.
Ich lief nicht zu ihr hin und rief sie
auch nicht. Ich hatte Angst. Aber wovor? Dieser Moment hätte das Finale des
zweiten Akts sein sollen: Die Liebenden sind ihrem jeweiligen Gefängnis
entronnen, das Liebesnest wartet. Sie können sich umarmen, bis die rosigen
Finger des Morgens über den Himmel kriechen! Es ist nicht der Moment, Angst zu
haben!
Glaube nicht an das, was du in der
Oper lernst. Liebe ist nicht nur das Sich-Öffnen zweier Seelen. Und sie ist
auch kein Schmerzmittel für das gequälte Herz – sie ist ein Stimulans. Unter
ihrem Einfluss wächst das Herz, bis jeder eigene winzige Makel deutlich und
schmerzhaft erleuchtet wird. Und der Makel des Kastraten ist nicht winzig. Auf
meinen nächtlichen Wanderungen hatte ich genug erfahren, um zu wissen, dass ich
die größte aller Täuschungen
Weitere Kostenlose Bücher