Der katholische Bulle: Roman (German Edition)
Leute.«
»Vielleicht ist sie ja eingestiegen und ihre Ma hat sie übersehen.«
»Der Zug hatte nur drei Wagen, und sie hat in jedem davon nachgeschaut.«
Crabbie zuckte mit den Schultern. »Na ja, ist doch jetzt eh alles zwecklos, oder?«
»Ja, da hast du wohl recht.«
Wir gingen weiter. Der Regen und der Sonntag hatten bis auf die richtig Hartnäckigen alle ferngehalten, und der Warteraum war leer, abgesehen von einem verrückt aussehenden Mann, der seinen Arm mit Toilettenpapier verbunden hatte.
Hattie Jacques sah uns hereinkommen. »Guten Tag, die Herren. Sie werden sich beeilen müssen, wenn Sie zu Dr. Cathcart wollen. Ihr Büro ist die letzte Tür rechts.«
Wir gingen den dunklen Gang entlang. Ich sah auf die Uhr. Es war fast zehn Uhr, und mir knurrte der Magen.
»Ich bin am Verhungern«, sagte ich.
»Willst du einen halben Mars-Riegel?«, fragte McCrabban.
»Ich würde dafür morden.«
Er fischte einen Riegel aus der Tasche, brach ihn durch und gab mir die Hälfte. Wir aßen ihn vor Lauras Büro. Drinnen konnten wir sie zu »Heart of Glass« von Blondie mitsingen hören. Sie sang schiefer als der Turm zu Pisa.
Ich grinste McCrabban an, er grinste zurück. Wir klopften an.
Das Radio verstummte urplötzlich.
»Herein!«
Ihr Büro war klein und dunkel, voll mit Büchern, Akten und ein paar anatomischen Schaubildern. Keinerlei weiblicher, heimeliger Touch. Der Eindruck, den sie deutlich vermitteln wollte, lautete: Geschäft, nichts anderes.
Wir begrüßten sie und setzten uns. Der Blick ging hinter ihr hinaus auf die Krankenhausmauer und den Knockagh Hill dahinter.
Sie sah bezaubernd aus. Ihre Lippen waren rot, die Wangen rosig, das Haar fiel in Wellen herab, ihr Gesicht strahlte. Keine Ahnung, wie ich das bisher hatte übersehen können. Sie war atemberaubend schön.
An der Wand hing ein Foto von ihrer Abschlussklasse an der University of Edinburgh, und selbst in Talar und Hut stach sie unter allen anderen heraus. Die Kamera liebte sie. Vielleicht lag das an ihren Elfenaugen, vielleicht an diesen kessen, vollen, flaumigen Lippen.
»Das wollte ich Ihnen gerade rüberschicken lassen«, unterbrach sie meine Träumerei und reichte uns zwei Aktendeckel. Der Schreibtisch war eine alte gusseiserne Angelegenheit mit drei Schubladen und einer schiefen Oberfläche. Man konnte ihre Beine sehen. Sie trug Stiefel. Reitstiefel, schwarze Jeans und einen engen schwarzen Pullover. In diesem Outfit wirkte sie schlank und athletisch, und ich wusste, ich würde Schwierigkeiten haben, mich auf die anstehende Arbeit zu konzentrieren.
»Irgendwelche Überraschungen?«, fragte ich.
»Oh ja«, nickte sie. »Eine Überraschung nach der anderen.«
»Tatsächlich?«, meinte McCrabban.
»Wir haben nicht viel Zeit. In zehn Minuten fängt mein Dienst in der Sonntagsklinik an.«
Ich schlug den obersten Deckel auf und legte die Akte so auf den Tisch, dass McCrabban mitlesen konnte. Es handelte sich um ihren Autopsiebericht zu Andrew Young.
»Und das hier werden Sie auch brauchen«, sagte sie und schob ein weiteres Stück Notenblatt in einem Plastikbeutel über den Tisch.
»Es steckte zusammengerollt in seiner Hand.«
Ich strich das Blatt, das mit erheblich weniger Sorgfalt aus einer Partitur gerissen worden war als das erste, auf dem Schreibtisch glatt und besah mir die Noten. Ich erkannte das Stück sofort. Der »Galopp« aus Jaques Offenbachs Orpheus in der Unterwelt , Akt 2, Szene 2. Ich hatte es in der vierten Klasse auf dem Klavier gespielt.
»Mist«, sagte ich.
»Was ist es denn?«, fragten Laura und McCrabban wie aus einem Mund.
»Das kennen wir alle. Der ›Galopp‹ aus Orpheus in der Unterwelt . Eine Art musikalischer Witz. Eine Parodie. Offenbach hat sich damit ein wenig auf Kosten der ernsteren Musikliebhaber lustig gemacht.«
»Kenn ich nicht«, meinte Crabbie.
»Im 19. Jahrhundert wurde daraus der Cancan, der in zahlreichen Revuen vorkommt.«
»Und was sagt uns das?«, wollte McCrabban wissen.
»Keine Ahnung. Orpheus in der Unterwelt handelt davon, bestraft zu werden und in der Hölle zu landen. Vielleicht sollte Young dafür bestraft werden, dass er schwul war? Man sollte meinen, dass Benjamin Brittens Billy Budd oder Tod in Venedig passender gewesen wären, oder?«
»Das muss ich dir einfach so glauben, Mann.«
Ich besah die Noten und schüttelte den Kopf. »Oder er will uns wieder verhöhnen. Der Cancan ist eine berühmte musikalische Verarsche. Vielleicht der berühmteste musikalische Scherz
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