Der Kaufmann von Lippstadt
»Glauben Sie, ich höre und sehe nichts? Erst trifft sich Ihr Fräulein Tochter zwei oder drei Mal mit Kerkmanns Stephan und muss einige Wochen später nach Lübeck reisen. Dann erpresst Sie der Köpner mit irgendetwas – ich kann mir schon denken, womit, und kurz drauf verschwindet er. Bestimmt kein Zufall. Und dann kommt der Engerling. Der stellt doch auch Forderungen, nicht wahr? Was hat er gesehen? Wie Sie für Köpners Verschwinden gesorgt haben? Ich habe beobachtet, wie Sie wie besessen Ihren Spaten gescheuert haben. Klebte Schande daran?«, fragt Buersmeyer hämisch. – Da kommt ihm ein guter Gedanke … und er kann sich ein durchtriebenes Lächeln nicht verkneifen. Bevor Overkamp etwas erwidern kann, verlässt Buersmeyer das Kontor. Draußen in der Kirchgasse hört er Overkamp wüten: »Ich bin noch nicht fertig mit dir! Warte! Du gehst erst, wenn ich es dir erlaubt habe! Komm zurück! Ich habe mit dir zu sprechen!«
Als Bernhard Buersmeyer nicht zurück kommt, lässt Ferdinand Overkamp sich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch fallen, die Ellenbogen auf die mit Papieren übersäte Tischplatte gestützt und die Hände vor sein Gesicht gelegt. Was ist hier nur los? Ja macht denn hier jeder, was er will? Und was wollte Buersmeyer ihm zu verstehen geben, als er sagte, Elisabeth habe sich mit Kerkmanns Stephan getroffen? Warum sollte sie das tun? Zugegeben, er ist ein gut aussehender Bursche, groß, muskulös, strohblondes Haar und strahlend blaue Augen. Das macht bestimmt Eindruck bei den jungen Damen. Aber Elisabeth weiß, welch rauer Ton im Hause des Nachbarn Kerkmann herrscht. Als kleines Mädchen hat sie immer geweint, wenn sie hörte, wie der alte Kerkmann Frau und Kinder verdrosch. ›Sie tun mir so leid‹, hat sie immer gesagt. ›Sie sind doch so nett.‹ Wenn Elisabeth dann das peitschende Geräusch des Gürtels hörte, ist sie schreiend ins Haus gelaufen. Manche Dinge hören nie auf, denkt Overkamp und erinnert sich an den Morgen des Tages, der dann alles veränderte. Er hatte im Kräutergarten gesessen als zuerst der Gürtel und anschließend nur noch die Schreie der gnädigen Frau zu hören waren. Das kann man nicht aushalten. Frau und Kinder, wenn auch schon fast erwachsen, tun ihm leid. Gerade der Stephan ist ein prächtiger Bursche, aus dem etwas Ordentliches werden wird. Er grüßt immer freundlich, hat eine gute Bildung und stets einen akkuraten Haarschnitt. Doch erst im vergangenen Winter hatte Ferdinand Overkamp erlebt, dass Stephan Kerkmann seinem Vater in Bezug auf Wutausbrüche in nichts nachsteht. Er sollte den Schnee beiseiteschieben und als dabei der Stiel abbrach, schlug er mit dem Stück, das er in Händen hielt, auf eine Katze ein, die laut fauchend das Weite suchte. Stephan fluchte und schlug wüst um sich. Es dauerte recht lange, bis er sich beruhigt hatte. Am Abend hatte Ferdinand Overkamp seiner Familie von dieser Beobachtung berichtet und erinnert sich, dass schon damals Elisabeth Stephan verteidigt hat. Er sei nicht wie sein Vater, hatte sie gesagt. Overkamp hatte dem keine Bedeutung beigemessen, denn die beiden sind mehr oder weniger zusammen aufgewachsen und kannten sich gut. Jetzt sieht er Elisabeths Äußerung in einem anderen Licht. Was ist, wenn Kerkmanns Stephan der Vater des ungeborenen Kindes ist? Einem jungen Mädchen den Kopf zu verdrehen ist für ihn bestimmt ein leichtes. Wenn er der Vater ist, hätte man doch eine Hochzeit feiern können. Kerkmanns sind eine angesehene Familie, wenn man von der Gewalt absieht. Allen Lippstädtern ist bekannt, was im Hause Kerkmann zuweilen geschieht, doch es ist eine private Angelegenheit, da kann sich niemand einmischen. Andererseits nimmt es Ausmaße an, die niemand gut heißen kann. Ob Elisabeth davor Angst hatte? Wenn ich sie mit Stephan verheiratet hätte, blühte ihr womöglich ein Schicksal, wie der alten Frau Kerkmann. Sie wäre vielleicht von Stephan so verdroschen worden, wie dessen Mutter von seinem Vater. Seine Elisabeth wäre mit einem Gürtel verdroschen worden. Diese Vorstellung lässt ihn schaudern. Nein, niemand darf an seine Elisabeth Hand anlegen. Niemand. Unter diesen Umständen kann er Elisabeths Schweigen sogar verstehen. Ja, er ist sogar dankbar für ihr Schweigen, weil sie ihm so erspart hat, zwischen einer – dieser – Hochzeit und der Schande wählen zu müssen. Eine Entscheidung, die vielleicht die schwerste seines Lebens gewesen wäre. Er hätte damit leben müssen, wie er jetzt damit leben
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