Der Kaufmann von Lippstadt
bewusst, dass er den falschen Mann – Jungen – der Vaterschaft bezichtigt hat. Er hat den falschen zur Rede stellen wollen und zu guter Letzt auch noch den Falschen in die Luft fliegen lassen. Dann war auch noch der andere, der zweite, Bursche irgendwie dazugekommen – ob er dem Johann helfen wollte?
»Herr Christ, steh mir bei«, flüstert Ferdinand Overkamp. Ich habe den Tod zweier unschuldiger Burschen zu verantworten: Agnes’ Bruder und seinen Freund habe ich auf dem Gewissen. Und Köpner. Und den gewaltigen Sachschaden, der viele Lippstädter ruiniert hat.
71 Lokales und Provinzielles . In: Der Patriot, 2. August 1907.
29. Mai 2010
Annika und Oliver sitzen – wie viele andere Schaulustige auch – im Ufergras der Lippe an der Burgmühle und warten auf den Start des ersten Lippstädter Pappbootrennens. 72
Das soll ein ganz großes Spektakel werden, hat Oliver ihr vorgeschwärmt, das hat es noch nie gegeben, sie dürfe es nicht verpassen und müsse unbedingt kommen. Nur zu gerne hat Annika seinem Bitten nachgegeben. Sie mag es, mit Oliver zusammen zu sein.
Gestern Abend haben die angemeldeten Teams, alles erwachsene Menschen, aus Kartons, Klebeband und Folie vermeintlich fahrtaugliche Boote gebastelt, mit denen sie heute ihr Können im Fluss zeigen wollen. Der Moderator steht am gegenüberliegenden Ufer und begrüßt die Zuschauer ebenso wie die Teilnehmer. Anschließend setzt Disco-Musik ein, während die ersten Boote zum Start gebracht werden.
»Ich wollte dir noch erklären, warum diese Lippstädter Familie so wichtig für mich ist«, beginnt Oliver ein klärendes Gespräch. Wegen des Streits mit Annika während des Altstadtfestes ist er ihr immer noch eine Erklärung schuldig. »Ich glaube, dass ich mit den Overkamps verwandt bin«, beginnt Oliver. Ausführlich erzählt er Annika von dem Brief aus dem Sekretär seiner Oma, die eine geborene Overkamp war, von den beiden Tagebuchseiten, die er im Lübecker Archiv als Abschrift erhalten hat, und von seiner Vermutung, dass noch irgendetwas Schlimmes hier in Lippstadt geschehen ist, sodass Ferdinand Overkamp alles verloren hat. Er, Oliver, wisse nur nicht, was, wolle es aber unbedingt herausfinden. All diese Ereignisse lenkten ihn von seinem normalen Leben ab – und das sei auch gut so, denn mit seinem Studium sei er unzufrieden, der Studiengang sei nicht der richtige. Wenn er in Lippstadt sei, habe er Heimweh nach Lübeck. Fahre er allerdings nach Lübeck, könne er nur an Lippstadt und an die Overkamps – und natürlich an sie, Annika, denken. Schon allein deshalb müsse er das Geheimnis der Overkamps lüften, um sich dann wieder auf sein eigenes gegenwärtiges Leben konzentrieren zu können. Er hoffe, dass sie, Annika, dies verstehe und dass sie … Die Zuschauer jubeln und klatschen, als Bürgermeister Christof Sommer in seinem Pappboot namens ›Wappen von Lippstadt‹ über die Lippe paddelt.
»Ach, Oliver«, seufzt Annika, »warum hast du mir das denn nicht schon vorher erzählt? Ich finde Geschichte doch auch spannend, ich studiere sie sogar. Vieles lässt sich durch gründliche Recherche und wissenschaftliche Forschung aufdecken und erklären. Aber manches schafft es aus der Vergangenheit nicht zu uns. Es gibt vieles, was niemand weiß und auch niemand in Erfahrung bringen kann«, gibt Annika zu bedenken und klatscht mit den anderen Zuschauern mit, ohne zu wissen, warum. Sie hat gar nicht gesehen, was auf der Lippe geschehen ist.
»Weißt du, Oliver, mir ist immer noch nicht klar, was du bei der LTZ eigentlich machst.«
»Um ehrlich zu sein, habe ich einfach irgendetwas gesucht, um hier nach Lippstadt kommen zu können. Wie vorteilhaft dieses Praktikum bei der Zeitung ist, ist mir erst hier klar geworden. Stell dir vor, das an der Lippe gefundene Skelett hätte etwas mit dem Geheimnis von 1764 zu tun! Zeitlich passt das ja«, überlegt Oliver.
»Wie wahrscheinlich ist das denn? Hier war Krieg. Hier hat es Tote gegeben. Grassierte hier nicht auch eine Seuche?« Annika erinnert sich dunkel, dass Oliver das mal erwähnt hat.
»Fleckfieberseuche? Das war 100 Jahre vorher. Aber stell dir vor, hier wäre ein Mord begangen worden! Wie spannend!«
»Ich glaube, du guckst zu viel ›Tatort‹«, vermutet Annika. »In Lippstadt war es bestimmt ziemlich langweilig. Komm, wir trinken dort oben an der Bierbude etwas.«
72 Vgl.: Tollkühne Typen in schwimmenden Kartons. In: Der Patriot, 31. Mai 2010.
7ter August 1764
»Peter, wir
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