Der Kaufmann von Lippstadt
anscheinend größenwahnsinnig. ›Früher oder später bekomme ich ohnehin alles‹, erinnerte er Overkamp. ›Alles!‹ Sage und schreibe 100 Reichstaler hat er verlangt, er wolle es sich auf dem Jahrmarkt gut gehen lassen, und sein Hausstand müsse aufgebessert werden. Diese Unverschämtheit hat Overkamp auflachen lassen, doch Engerlings eiskalter Blick hat ihm das Blut in den Adern gefrieren lassen. 100 Reichstaler, denkt Overkamp jetzt. 100 Reichstaler. Der arme Schuster kann sich wohl von einer solch großen Summe kein Bild machen. Auch er, der erfolgreiche Kaufmann Ferdinand Overkamp, kann nicht so ohne Weiteres 100 Reichstaler berappen. Gut, dass am Bartholomäus-Tag wie immer die Pachtzahlungen fällig sind, dann kommt wieder Geld in die Kasse. Doch auch diese Einnahmen lösen Overkamps Problem nicht dauerhaft. Es kleben ohnehin Blut und Schande an ihm. Der Engerling muss auch noch weg. Auf einen mehr oder weniger kommt es nicht an. Vielleicht hänge ich ihn an das Soest Tor? Dann fällt sein Blick immer Richtung Helfmanns Land, wo er gesehen hat, was er nicht hat sehen sollen. Oder sollte ich ihm die Augen verbinden? Oder ausstech–, nein, das wäre zu viel. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Für einen Augenblick stimmt ihn diese Vorstellung friedlich. In Gedanken sieht er schon, wie sich der Strick in den Hals drückt und der leblose Körper leicht im Wind schaukelt. Wie gut, dass nicht mehr nur die fünf Tore den Weg in die Stadt und wieder hinaus ermöglichen. An vielen Stellen ist es seit Schleifung der Festung möglich, die Stadt zu verlassen. Auch am Soest Tor. So könnte auch er, Overkamp, vermutlich ungestört und ungesehen den Engerling an die nicht mehr genutzte Wallpoterne hängen. Verdient hätte der Engerling, dort tagelang zu hängen. Die Krähen sollen ihm die Augen aushacken … Doch es würde schnell gehen – zu schnell –, bis Engerling gefunden und abgenommen werden würde. Die Krähen hätten keine Möglichkeit, ihrer Natur zu entsprechen.
Der Messingklopfer ertönt, und Caspar Engerling betritt das Kontor. Overkamp erschrickt, doch sein soeben geschmiedeter Plan gibt ihm die Kraft, seinem Erpresser erhobenen Hauptes entgegenzutreten.
»Guten Abend, werter Herr Overkamp. 100 Reichstaler hatte ich gesagt«, erinnert Engerling an das gestrige Gespräch.
»Heute kann ich Ihnen nur 24 Reichsthaler und 8 Mariengroschen geben. Das ist viel, viel mehr, als manch einer im Jahr bekommt. Die Pacht ist noch nicht gezahlt«, erklärt Overkamp. Ich muss mir Zeit verschaffen, um zu planen, denn eines ist wichtig: Ich darf von niemandem beobachtet werden, sonst …
»Gut, heute geben Sie mir die 24 Thaler. Die restlichen 66 hole ich in ein paar Tagen. Sorgen Sie dafür, dass Sie dann das Geld haben. Einen freundlichen Gruß an Ihre Frau Gemahlin.« Caspar Engerling nickt Overkamp zu und geht.
Overkamp kann sich kaum ein Grinsen verkneifen. Der Engerling ist höflich, aber dumm. Rechnen müsste man können!, denkt Overkamp. 24 + 66 = 100? Von den Mariengroschen ganz zu schweigen.
4. Juni 2010
Eng beieinander sitzen Annika und Oliver im Stadtpark Grüner Winkel auf einer Bank und genießen die Eröffnung der Familientage ›Parkzauber‹. Ein weiteres Event der 825-Jahr-Feier Lippstadts. Am Eingang am Mattenklodt-Steg haben sie zwei Fackeln gekauft, die sie bei Anbruch der Dunkelheit mit den vielen anderen Besuchern anzünden werden. Laut Programmheft verwandelt sich dann der Grüne Winkel in einen Lichter- und Klanggarten mit Dudelsack und Trommeln. 73 Viele verschiedene Music-Acts sind für diesen Abend vorgesehen und finden über den Park verteilt statt.
»Ich freue mich, dass mit uns beiden wieder alles im Reinen ist«, sagt Annika und legt ihren Kopf an Olivers Schulter.
»Ja, finde ich auch«, bestätigt Oliver. »Ich mag gar nicht daran denken, Lippstadt wieder verlassen zu müssen.«
»Warum?«
»Na ja, ich muss doch mein Studium fortsetzen. Ich habe nur ein Urlaubssemester, das heißt, ich muss im Oktober, pünktlich zum Wintersemester, wieder in Lübeck sein.«
»Wie schade. Aber uns bleibt noch der ganze Sommer. Bei dieser Hitze könnten wir mal schwimmen gehen«, überlegt Annika. »Kann man eigentlich in der Lippe schwimmen?«
»Ja. Ungefähr dort, wo die Granaten und das Skelett gefunden wurden. Und weiter Richtung Cappel. Irgendwo da soll ein Lippe-Strandbad hinkommen«, sagt Oliver und ist mit seinen Gedanken wieder bei seinem Lieblingsthema. »Weißt du, was
Weitere Kostenlose Bücher