Der Kaufmann von Lippstadt
herausgetrennte Zunge ist nicht …«
»Was ist geschehen?«, ruft Stadt-Syndicus Clüsener, als er über den Marktplatz läuft. Sein Haar steht wüst in alle Richtungen, und auf der Wange sieht man noch den Abdruck von Kissenfalten. »Warum warten Sie nicht auf mich?«
»Ich bin doch da«, erklärt Dr. Rose. »Es ist eine Zunge, eine menschliche.«
»Herr Christ, erbarme dich«, ruft Clüsener gen Himmel.
»Diese Zunge soll uns etwas sagen«, setzt Dr. Buddeus neuerlich an. »Das war schon im Mittelalter so, dass beispielsweise Gotteslästerer, Verleumder und Meineidige mit dem Herausreißen ihrer Zunge bestraft wurden. Bedenken Sie nur, auch mit einer Zunge kann man ein Verbrechen begehen.«
Bürgermeister Dr. Rose, Stadt-Syndicus Clüsener und die beiden Glaser sehen sich an und zucken mit ihren Schultern.
»Rufmord«, fügt Dr. Buddeus zur Erklärung an.
»Wem gehört denn die Zunge?«, erkundigt sich Dr. Rose mit Grausen. Allein die Vorstellung, einen Ermordeten in seiner Stadt zu haben, bereitet ihm Unbehagen. »Stadt-Syndicus Clüsener und Stadt-Physicus Dr. Buddeus, finden Sie die Leiche!«, fordert er. »So-fort!«
»Dr. Rose, Sie wissen doch – wie soll ich sagen? Sie wissen doch, dass ich mit meinem Stiefbruder nur noch … Also: Johann Philipp Buddeus und ich können auf gar keinen Fall zusammenarbeiten«, stammelt Clüsener.
»Sie müssen! Wo bleibt eigentlich Herr Schmitz? Nun gut, dann ordne ich es allein obrigkeitlich an!«, sagt Dr. Rose streng. »Geben Sie mir Bescheid, wenn es etwas Neues gibt.«
»Das können Sie doch nicht machen! Das geht doch nicht!«, schreit Clüsener Dr. Rose hinterher. »Das dürfen Sie nicht!«
»Was ist passiert?«, erkundigt sich Ferdinand Overkamp, der von dem Geschrei aufgewacht und umgehend zum Rathaus gelaufen ist. Dr. Buddeus berichtet von dem Fund und von dessen Bedeutung, während er die Zunge von der Tür entfernt.
»Wie entsetzlich. Was ist nur aus unserer Stadt geworden?«, überlegt Overkamp laut. »Immer diese Toten.«
»Tote hatten wir schon immer. Aber die mit einer unnatürlichen Todesursache häufen sich «, gibt Dr. Buddeus zu bedenken. »Naja, die Explosion wird ein Unfall gewesen sein, kein Mord, aber dieser Fund hier, spricht eine ganz andere Sprache.«
Für einen kurzen Augenblick sieht Overkamp den erschlagenen Anton Köpner auf der Wiese zwischen Lippe und Munitionsgrube liegen. Wie gut, dass Dr. Buddeus nichts von Köpners Schicksal weiß. Und von Engerlings, denkt Overkamp und sieht den Schuster schon am Soest Tor baumeln. Der Gedanke an die Erleichterung, die eintreten wird, wenn der Engerling hängt, legt ein zartes Lächeln über Overkamps schlechtes Gewissen.
10. Juli 2010
05251-74258
»Austerschmidt«, meldet sich Annika am Telefon.
»Hi, hier ist Oliver. Ich wollte hören, ob du heute Abend zum WM-Spiel nach Lippstadt kommst. Wir könnten es auf dem Rathausplatz gucken. Public Viewing.«
»Mir geht es heute nicht gut. Diese Hitze macht mich fertig. So extremes Wetter hatten wir lange nicht. Sei mir nicht böse, aber ich bleibe heute zu Hause«, beschließt Annika.
»Schade. Echt schade. Aber wie du meinst. Heute steht übrigens in der Zeitung 78 , dass Lippstadt zu Recht das 825-jährige Jubiläum feiert. Da war eine Veranstaltung des Heimatbundes und ein Historiker der Uni Münster habe gesagt, zwischen 1185 und 1187 habe Graf Bernhard die Stadt Lippe gegründet.«
Sie unterhalten sich noch eine ganze Weile über dies und das, bis Oliver eine sms von einem Kollegen der LTZ-Redaktion bekommt: ›Heute um 8 auf rathauspl. Kommst du? Vg andy.‹
Um 20:30 Uhr ist Anpfiff. Oliver steht mit Andy, noch einem anderen Kollegen von der LTZ und vielen Fußball-Fans auf dem Lippstädter Rathausplatz und drückt der deutschen Nationalmannschaft die Daumen, dass sie gegen Uruguay gewinnen und somit den 3. WM-Platz ergattern. Schon nach dem zweiten Bier merkt Oliver, dass ihm der Alkohol nach diesem extrem heißen Tag rasch zu Kopfe steigt. Doch sein Durst lässt ihn noch mehr trinken. Und als Thomas Müller sein fünftes WM-Tor schießt, holt sein Kollege drei kleine Jägermeister-Fläschchen aus der Tasche. Eins davon reicht er Oliver. »Hier, auf Müller!«, sagt der Mann.
»Prost, auf Müller!« Oliver stößt mit ihm an. Irgendwo in Lippstadt heulen Vuvuzelas.
Deutschland gewinnt 3:2. »Drei gute Gründe, zu dritt noch drei zu trinken«, lallt Olivers Kollege und lacht über seine tolle Formulierung. Zusammen bahnen sie
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