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Der Keim des Verderbens

Der Keim des Verderbens

Titel: Der Keim des Verderbens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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umdrehen.«
    Das tat ich, und er richtete die Lampe auf das andere Ende, an dem es keine Anzeichen für Fehlversuche gab. Diese Schnittkante war ebenso glänzend und gewellt wie die andere, aber Canters scharfes Auge ließ sich nicht täuschen.
    »Eine elektrische Autopsiesäge mit einem großen Sägeblatt«, sagte er. »Der Schnitt wurde in verschiedenen Richtungen geführt, da der Hub des Blattes zu kurz ist, um den ganzen Knochen mit einem Mal zu durchtrennen. Also, wer auch immer hier am Werke war, hat einfach mehrmals die Richtung geändert und die Säge mit großer Geschicklichkeit aus einem anderen Winkel angesetzt. Die Kerben sind leicht gekrümmt. Der Knochen ist an der Austrittstelle nur minimal gesplittert - ein weiteres Indiz für große Fertigkeit im Umgang mit der Säge. Mal sehen, ob sich Näheres über die Zähne sagen läßt, wenn ich noch etwas stärker vergrößere.«
    »Der Abstand zwischen den Zähnen beträgt eins Komma sechs Millimeter. Sechzehn Zähne pro Zoll«, zählte er. »Die Schnittbewegung ist oszillierend, Zähne meißelförmig. Ich würde sagen, diese Spuren stammen von Ihnen.«
    »Ertappt«, sagte ich erleichtert. »Ich bekenne mich schuldig.«
    »Das hab' ich mir gedacht.« Er schaute immer noch durchs Mikroskop. »Ich nehme an, Sie verwenden überhaupt keine runden Sägeblätter.«
    Die großen, runden Autopsiesägeblätter sind schwer und zerstören durch ihr ständiges Rotieren relativ viel Knochengewebe. Im allgemeinen werden solche Blätter nur in Labors oder Arztpraxen zum Entfernen von Gipsverbänden verwendet.
    »Wenn überhaupt, dann nur für Tiere«, sagte ich.
    »Von der zwei- oder von der vierbeinigen Sorte?«
    »Ich habe schon Kugeln aus Hunden, Vögeln, Katzen und einmal sogar aus einer Python geholt, die bei einer Drogenrazzia erlegt wurde«, antwortete ich.
    Canter befaßte sich bereits mit einem anderen Knochen.
    »Und ich dachte immer, ich sei der einzige, der Spaß bei der Arbeit hat.«
    »Finden Sie es ungewöhnlich, daß jemand viermal eine Fleischersäge zum Zerstückeln verwendet und dann plötzlich zu einer elektrischen Autopsiesäge wechselt?« fragte ich.
    »Wenn Sie mit Ihrer Theorie hinsichtlich der Fälle in Irland richtig liegen, wären das insgesamt neun Fälle, bei denen eine Fleischersäge benutzt wurde«, sagte er. »Können Sie das hier mal eben festhalten, damit ich es fotografieren kann?«
    Ich hielt das Segment des linken Oberschenkelknochens zwischen den Fingerspitzen, und er drückte auf den Auslöser der Kamera.
    »Um Ihre Frage zu beantworten«, sagte er, »ich halte das für höchst ungewöhnlich. Das paßt nicht zusammen. Die Fleischersäge wird mit Muskelkraft von Hand bedient und hat für gewöhnlich zehn Zähne pro Zoll. Sie schneidet auch Gewebe und nimmt bei jedem Schnitt eine Menge Knochensubstanz mit. Die Sägespuren sind gröber und sagen mehr darüber aus, ob jemand geschickt oder kräftig ist. Und außerdem darf man nicht vergessen, daß der Täter in allen früheren Fällen durchs Gelenk gesägt hat und nicht durch den Schaft, was ebenfalls sehr selten ist.«
    »Es ist eben nicht derselbe Täter«, tat ich zum wiederholten Mal und mit wachsender Überzeugung kund.
    Canter nahm mir den Knochen aus der Hand und sah mich an. »Ganz meine Meinung.«
    Als ich zum Empfang der Gerichtsmedizin zurückkehrte, telefonierte Marino immer noch am anderen Ende der Halle.
    Ich wartete einen Moment, dann ging ich nach draußen, denn ich brauchte Luft. Ich brauchte Sonnenschein und Erholung von den scheußlichen Dingen, die ich die ganze Zeit vor Augen gehabt hatte. Gut zwanzig Minuten vergingen, bis er endlich herauskam und sich beim Wagen zu mir gesellte.
    »Ich wusste nicht, daß Sie hier draußen sind«, sagte er. »Wenn mir jemand Bescheid gesagt hätte, hätte ich längst aufgelegt.«
    »Schon gut. Was für ein wunderschöner Tag.«
    Er schloss den Wagen auf.
    »Wie wär's?« fragte er und schob sich auf den Fahrersitz.
    Während ich kurz die Ergebnisse zusammenfaßte, machte Marino keinerlei Anstalten loszufahren.
    »Möchten Sie zurück ins Peabody?« fragte er und trommelte nervös mit dem Daumen aufs Lenkrad.
    Was er wollte, wusste ich genau.
    »Nein«, sagte ich. »Graceland ist jetzt vielleicht genau das Richtige.«
    Er legte den Gang ein und konnte ein breites Grinsen nicht unterdrücken.
    »Wir nehmen den Fowler Expressway«, sagte ich. Ich hatte bereits den Stadtplan studiert.
    »Ich wünschte, Sie könnten mir seinen

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