Der Keim des Verderbens
sagte ich. Wirbelknochen besaßen ein ausgeprägteres Bälkchenwerk und waren substanzärmer als andere Knochen. Zur Analyse von Werkzeugspuren waren sie daher nicht besonders gut geeignet.
»Kann nicht schaden, ihn trotzdem mitzunehmen. Vielleicht haben wir ja Glück«, sagte er, während wir sein Labor betraten.
Der Raum platzte aus allen Nähten. 130-Liter-Fässer mit Mazerationslösung und Polyurethanlack standen überall, wo Platz war. Deckenhohe Regale waren mit eingepackten Knochen vollgestopft, und überall standen Kisten und OP-Wagen mit allen erdenklichen Arten von Sägen herum. Zerstückelungen kommen nur selten vor, und es gab meines Wissens nur drei naheliegende Beweggründe, eine Leiche zu zerteilen: Sie ließ sich so leichter transportieren. Die Identifizierung dauerte länger oder war sogar unmöglich. Oder der Mörder war einfach besonders sadistisch veranlagt.
Canter zog einen Hocker zu einem mit einer Kamera ausgestatteten OP-Mikroskop. Er schob ein Tablett mit gebrochenen Rippen und Schilddrüsenknorpeln beiseite, an denen er offenbar vor meiner Ankunft gearbeitet hatte.
»Dieser Mann hier hat unter anderem einen Tritt in die Kehle abbekommen«, sagte er abwesend, während er sich OP-Handschuhe anzog.
»Was ist das doch für eine schöne Welt, in der wir leben«, bemerkte ich.
Canter öffnete den Beutel mit dem Segment des rechten Oberschenkelknochens. Da das fünf Zentimeter lange Knochenstück nicht auf den Objekttisch des Mikroskops passte, bat er mich, es an die Tischkante zu halten. Dann bog er eine 25-Watt-Glasfaserlampe über eine der Schnittflächen.
»Zweifelsohne eine Stryker-Säge«, sagte er, als er durch das Okular schaute. »So einen glatten Schnitt erhält man nur, wenn sich das Sägeblatt ganz schnell hin- und herbewegt.
Sieht fast aus wie poliert. Sehen Sie?«
Er trat zur Seite, und ich schaute selbst hindurch. Der Knochen war leicht gewellt, wie in sanfter Kräuselung gefrorenes Wasser, und er glänzte. Im Gegensatz zu anderen elektrischen Sägen besitzt die Stryker ein oszillierendes Sägeblatt mit einem geringen Hub. Es durchtrennt keine Haut, sondern nur harte Oberflächen, zum Beispiel Knochen oder den Gipsverband, den ein Orthopäde nach der Heilung eines Arm- oder Beinbruchs entfernt.
»Die waagerechten Schnitte auf dem Mittelschaft stammen natürlich von mir«, sagte ich. »Da habe ich Knochenmark für den DNS-Test entnommen.«
»Die Messerspuren aber nicht.«
»Nein. Auf keinen Fall.«
»Tja, mit denen werden wir nicht viel Glück haben.«
Messer verwischen ihre eigenen Spuren, es sei denn, der Täter sticht oder hackt damit auf die Knochen oder Knorpel des Opfers ein.
»Die gute Nachricht ist jedoch, daß wir hier ein paar Fehlversuche haben, eine breitere Kerbe als auf der anderen Seite und die Zahnteilung«, sagte er und justierte die Schärfe, während ich immer noch den Knochen festhielt. Ich hatte keine Ahnung von Sägen gehabt, bevor ich anfing, soviel Zeit mit Canter zu verbringen. Knochen bieten eine exzellente Oberfläche für Werkzeugspuren. Wenn die Zähne einer Säge sich in einen Knochen graben, bleibt eine Rille oder Kerbe zurück. Bei einer mikroskopischen Untersuchung der Seitenwände und des Bodens so einer Kerbe kann man auf der Seite, wo die Säge aus dem Knochen ausgetreten ist, eine typische Splitterung feststellen. Anhand der Zahnform, der Zahnteilung, des Zahnabstands und der Ausformung der Rillen läßt sich das Modell des Sägeblatts bestimmen.
Canter stellte die Glasfaserlampe so ein, daß die winzigen Riefen und Verwerfungen deutlicher zutage traten.
»Man kann die Rundung des Sägeblatts erkennen.« Er deutete auf mehrere Fehlversuche am Schaft, wo jemand das Sägeblatt in den Knochen gedrückt hatte, um es dann an anderer Stelle noch einmal zu probieren.
»Von mir sind die nicht«, sagte ich. »Ich will doch hoffen, daß ich nicht ganz so ungeschickt bin.«
»Da dies auch das Ende ist, an dem sich die meisten Messerspuren befinden, bin ich ebenfalls der Meinung, daß diese Fehlversuche nicht von Ihnen stammen. Der Täter musste zuerst ein anderes Instrument zum Schneiden benutzen, denn schließlich schneidet ein oszillierendes Sägeblatt kein Fleisch.«
»Was können Sie sonst noch über das Sägeblatt sagen?« fragte ich, denn ich wusste, was für eins ich selbst verwendet hatte.
»Große Zähne, siebzehn pro Zoll. Es handelt sich also um ein rundes, scheibenförmiges Autopsiesägeblatt. Lassen Sie uns den Knochen mal
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