Der Keim des Verderbens
Unfall deklariert werden müssen. Traurig genug.«
»Steht wirklich fest, daß er es war?« fragte er dann.
»Ach du liebe Güte, Marino!«
»Was denn? Haben Sie die Fotos gesehen? Sind Sie absolut sicher?« setzte er hinzu.
»Ich habe sie gesehen. Ja, ich bin absolut sicher«, sagte ich und blieb am Empfang stehen.
»Und was sieht man darauf?« Er ließ sich nicht beirren.
Eine junge Frau namens Shirley, die sich schon bei meinen früheren Besuchen um mich gekümmert hatte, wartete geduldig, daß Marino und ich aufhörten, uns zu streiten.
»Das geht Sie nichts an«, gab ich ihm liebenswürdig zu verstehen. »Shirley, wie geht es Ihnen?« »Mal wieder im Lande?« Sie lächelte.
»Leider aus einem sehr unerfreulichen Anlaß«, antwortete ich.
Marino begann sich mit einem Taschenmesser die Fingernägel zu maniküren und schaute sich permanent um, als könne jeden Augenblick Elvis zur Tür hereinspazieren.
»Dr. Canter erwartet sie«, sagte Shirley. »Kommen Sie. Ich bringe Sie hin.«
Während Marino sich trollte, um irgendwo am anderen Ende der Eingangshalle zu telefonieren, wurde ich in das bescheidene Büro jenes Mannes geführt, den ich seit seiner Assistenzarztzeit an der University of Tennessee kannte. Als ich ihn kennenlernte, war Canter so jung gewesen wie Lucy heute.
Er war ein Anhänger des forensischen Anthropologen Dr. Bass, der in Knoxville das auch als »Body Farm« bekannte Institut für Thanatologie gegründet hatte. Die größten Koryphäen auf diesem Gebiet zählten zu Canters Mentoren. Er galt als weltweit führender Experte für Sägespuren. Was hatte es nur auf sich mit diesem Staat, der für die Vols und Daniel Boone berühmt war. Tennessee schien ein Monopol auf Experten in der Todeszeitbestimmung und Analyse menschlicher Knochen anzustreben.
»Kay.« Canter erhob sich und streckte die Hand aus.
»Dave, es ist wirklich nett von Ihnen, daß Sie mir mal wieder so kurzfristig einen Termin gegeben haben.« Ich setzte mich auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch.
»Na ja, Sie haben es im Moment ja auch nicht leicht.«
Er trug seine dunklen Haare zurückgekämmt, so daß sie ihm jedes Mal, wenn er den Kopf senkte, in die Augen fielen. Offenbar ohne sich dessen bewusst zu sein, war er ständig damit beschäftigt, sie zurückzustreichen. Sein jugendliches Gesicht mit den eng zusammenstehenden Augen, dem kräftigen Kiefer und der großen Nase war auf interessante Weise kantig.
»Wie geht's Jill und den Kindern?« fragte ich.
»Prima. Wir erwarten wieder ein Baby.«
»Herzlichen Glückwunsch. Das dritte?«
»Das vierte.« Sein Lächeln wurde breiter.
»Ich weiß nicht, wie Sie das machen«, sagte ich aufrichtig.
»Es zu machen ist noch die leichteste Übung. Was haben Sie mir denn Schönes mitgebracht?«
Ich stellte den Hartschalenkoffer auf seine Schreibtischkante, öffnete ihn, holte die in Plastik eingepackten Knochenabschnitte heraus und gab sie ihm. Zuerst nahm er sich den linken Oberschenkelknochen vor. Er drehte und wendete ihn langsam hin und her und untersuchte ihn dabei mit seiner Lupe unter einer Lampe.
»Hmm«, sagte er. »Sie haben also das Ende, das Sie selbst abgesägt haben, nicht markiert.« Er warf mir einen Blick zu.
Das war kein Tadel, sondern lediglich eine Feststellung, und wieder packte mich die Wut auf mich selbst. Sonst war ich immer so vorsichtig. Ich war für meine übertriebene Sorgfalt regelrecht verschrien.
»Ich bin von einer falschen Voraussetzung ausgegangen«, sagte ich. »Ich habe nicht damit gerechnet, daß der Mörder eine Säge benutzen würde, die so große Ähnlichkeiten mit meiner aufweist.«
»Normalerweise benutzen Mörder keine Autopsiesägen.« Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf. »So einen Fall habe ich noch nie gehabt. Mit dieser Art von Sägespuren habe ich mich bisher nur in der Theorie befaßt, hier im Labor.«
»Dann handelt es sich also tatsächlich um eine Autopsiesäge.« Das hatte ich befürchtet.
»Mit Sicherheit kann ich das erst sagen, wenn ich die Knochen unter dem Mikroskop habe. Aber beide Enden sehen so aus, als seien sie mit einer Stryker-Säge durchtrennt worden.«
Er packte die Knochen wieder zusammen, und ich folgte ihm auf den Gang hinaus. Mir wurde immer mulmiger zumute.
Was sollten wir nur tun, wenn die Sägespuren nicht zu unterscheiden waren? Ein derartiger Fehler reichte vor Gericht aus, um einen ganzen Fall zu vermasseln.
»Der Wirbelknochen wird Ihnen ja wahrscheinlich nicht viel nützen«,
Weitere Kostenlose Bücher