Der Keim des Verderbens
schon seit Jahren, daß unser Problem irgendwann auf sie übergreifen könnte. Als sei Gewaltkriminalität eine Seuche, die sich ausbreiten kann.«
»Ist sie doch auch.«
Er nickte und griff wieder nach seinem Kaffee.
»Vielleicht ergäbe das Ganze mehr Sinn, wenn wir davon ausgingen, daß es in allen zehn Fällen hier und in Irland derselbe Täter war«, sagte ich.
»Kay, wir können nichts ausschließen.« Er klang müde, als er das einmal mehr betonte.
Ich schüttelte den Kopf. »Erst will er uns weismachen, daß er all diese Morde begangen hat, und jetzt droht er uns auch noch. Wahrscheinlich hat er keine Ahnung, wie sehr sich seine Vorgehensweise von den bisherigen Fällen unterscheidet.
Natürlich können wir nichts ausschließen, Benton. Aber meine Ergebnisse lassen in meinen Augen nur diesen einen Schluß zu, und ich glaube, der Schlüssel liegt in der Identität des neuen Opfers.«
»Das glaubst du doch immer.« Er lächelte und spielte mit seinem Kaffeelöffel.
»Ich fühle mich den Opfern gegenüber verpflichtet. Und in diesem Augenblick fühle ich mich der armen Frau verpflichtet, deren Rumpf in meiner Kühlkammer liegt.«
Mittlerweile war es draußen völlig dunkel, und die Kantine füllte sich rasch mit fitneßbewußten Männern und Frauen, deren Status man an der Farbe ihrer Uniformen ablesen konnte. Der Lärm machte es schwer, sich zu unterhalten, und ich musste noch zu Lucy, bevor ich abfuhr.
»Du magst Ring nicht.« Wesley nahm sein Anzugjackett von der Stuhllehne. »Er ist klug und macht einen ernsthaft engagierten Eindruck.«
»Mit dem zweiten Teil deines Profils liegst du definitiv falsch«, sagte ich und stand auf. »Aber was du zuerst gesagt hast, stimmt. Ich mag ihn nicht.«
»Ich finde, das hast du auch deutlich genug demonstriert.«
Wir wichen Menschen aus, die nach Stühlen Ausschau hielten und Bierkrüge auf Tische stellten.
»Ich halte ihn für gefährlich.«
»Er ist eitel und will sich einen Namen machen«, erwiderte Wesley.
»Und das findest du nicht gefährlich?« Ich schaute ihn von der Seite an.
»Das trifft auf fast jeden zu, mit dem ich je zusammengearbeitet habe.«
»Außer auf mich, hoffe ich.«
»Sie, Dr. Scarpetta, sind natürlich in fast jeder erdenklichen Hinsicht die große Ausnahme.«
Wir gingen durch einen langen Korridor in Richtung Eingangshalle. Ich wollte mich noch nicht von ihm trennen. Ich fühlte mich einsam, ohne recht zu wissen, warum.
»Ich würde wahnsinnig gern mit dir zu Abend essen«, sagte ich, »aber Lucy will mir noch etwas zeigen.«
»Und woher willst du wissen, daß ich nicht schon etwas vorhabe?« Er hielt mir die Tür auf.
Dieser Gedanke war mir unangenehm, auch wenn ich wusste, daß er mich nur auf den Arm nehmen wollte.
»Laß uns warten, bis ich hier wegkann«, sagte er. Inzwischen waren wir schon fast auf dem Parkplatz angekommen. »Vielleicht am Wochenende, dann haben wir ein bisschen mehr Ruhe. Diesmal koche ich. Wo steht dein Auto?«
»Da drüben.« Ich richtete meine Fernbedienung auf den Wagen.
Die Türen entriegelten sich selbsttätig, und die Innenbeleuchtung ging an. Wie üblich berührten wir uns nicht. Das hatten wir nie getan, wenn die Möglichkeit bestand, daß es jemand sah.
»Manchmal macht mich das richtig wütend«, sagte ich und stieg in meinen Wagen. »Wir dürfen uns den ganzen Tag lang über zerstückelte Leichen, Vergewaltigung und Mord unterhalten, aber wenn wir uns umarmen oder bei der Hand halten wollen, darf das um Himmels willen keiner mitbekommen.« Ich ließ den Motor an. »Ist das noch normal? Schließlich haben wir keine Affäre mehr und begehen auch kein Verbrechen.« Ich zog mir den Sicherheitsgurt über die Brust.
»Gibt es da beim FBI vielleicht irgendein Tabu, von dem mir keiner was gesagt hat?«
»Ja.«
Er küßte mich auf den Mund, während ein paar Agenten vorbeigingen. »Also sag niemandem was davon.«
Kurz darauf parkte ich vor der Engineering Research Facility, kurz: ERF, einem riesengroßen, futuristisch anmutenden Gebäude, in dem das FBI seine geheimen technischen Forschungs- und Entwicklungsvorhaben durchführte. Falls Lucy wusste, was in den Labors hier vor sich ging, so erzählte sie mir nichts davon, und selbst in ihrer Begleitung durfte ich nur wenige Teile des Gebäudes betreten. Sie wartete neben der Eingangstür, als ich die Fernbedienung auf meinen Wagen richtete, der nicht reagierte.
»Die funktioniert hier nicht«, sagte sie.
Ich sah zu dem Dach voller
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