Der Keim des Verderbens
in Betracht ziehen, daß der Mörder, zumindest der von der Atlantic-Mülldeponie, sich möglicherweise noch vor einem Monat in Norfolk aufhielt.«
»Es deutet alles darauf hin, daß das Opfer aus Virginia stammt«, erklärte ich einmal mehr.
»Wäre es möglich, daß eine der Leichen zwischenzeitlich in einem Kühlraum gelagert wurde?« fragte Ring.
»Diese nicht«, beeilte sich Wesley zu antworten. »Auf keinen Fall. Der Kerl ertrug es nicht, sein Opfer anzusehen. Er musste es zudecken und durch den Stoff hindurchsägen. Ich schätze, er hat keinen weiten Weg gemacht, um sich der Leiche zu entledigen.«
»Erinnert ein bisschen an >Das verräterische Herz<«, sagte Ring.
Lucy tippte mit angespanntem Gesicht auf ihrem Laptop herum und las irgend etwas auf dem Monitor. »Wir haben gerade etwas von der Squad 19 bekommen«, sagte sie und scrollte weiter nach unten. »Deadoc hat sich vor sechsundfünfzig Minuten eingeloggt.« Sie sah zu uns auf. »Er hat eine E-Mail an den Präsidenten geschickt.«
Der elektronische Brief war direkt ans Weiße Haus adressiert.
Das war kein Kunststück, schließlich handelte es sich um keine Geheimadresse. Jeder Internet-User konnte sie sich besorgen. Wieder war die Nachricht seltsamerweise in Kleinbuchstaben verfaßt, und Leerzeichen ersetzten die Interpunktion. Sie lautete: ich verlange eine entschuldigung sonst fange ich mit frankreich an.
»Daraus lassen sich allerhand Schlüsse ziehen«, sagte Wesley zu mir, während am Schießstand über uns gedämpfte Schüsse dröhnten, als würde irgendwo in weiter Ferne Krieg geführt.
»Grund genug, sich Sorgen um dich zu machen.«
Er blieb beim Wasserspender stehen.
»Ich glaube nicht, daß das irgendwas mit mir zu tun hat«, sagte ich. »Hier geht es um den Präsidenten der Vereinigten Staaten.«
»Falls du meine Meinung hören willst: Diese Botschaft ist symbolisch zu verstehen, nicht wörtlich.« Wir gingen weiter.
»Ich glaube, der Mörder ist verärgert, wütend. Er glaubt, daß eine oder mehrere Personen in einflußreicher Position für seine persönlichen Probleme verantwortlich sind.«
»So wie der Unabomber«, sagte ich, während wir den Aufzug nach oben bestiegen.
»Ganz ähnlich. Vielleicht dient der ihm sogar in gewisser Weise als Vorbild«, sagte er und warf einen Blick auf seine Uhr.
»Kann ich dich zu einem Bier einladen, bevor du fährst?«
»Nur wenn du mir einen Chauffeur besorgst.« Ich lächelte.
»Aber du kannst mich zu einem Kaffee überreden.«
Wir durchquerten den Gewehrreinigungsraum, wo Dutzende von Agenten des FBI und des Drogendezernats ihre Waffen auseinandernahmen, sie abwischten und die Bestandteile mit Luft durchpusteten. Sie warfen uns neugierige Blicke zu, und ich fragte mich, ob die Gerüchte auch hier schon die Runde gemacht hatten. Über meine Beziehung zu Wesley zerriß man sich an der Academy schon seit geraumer Zeit das Maul, was mir mehr zu schaffen machte, als ich mir anmerken ließ. Offenbar waren die meisten Leute immer noch der Ansicht, seine Frau hätte ihn meinetwegen verlassen, wo doch in Wirklichkeit ein anderer Mann der Grund gewesen war.
Die Schlange oben im PX, dem Shop für FBI Angehörige, war lang. Da stand eine mit dem neuesten Jogginganzugmodell bekleidete Schaufensterpuppe, und in den Fenstern lagen Thanksgiving-Kürbisse und Truthähne. In der Kantine dahinter lief laut der Fernseher, und ein paar Leute hatten bereits mit Popcorn und Bier den Feierabend eingeläutet.
Wir suchten uns einen möglichst weit von den anderen entfernten Platz und nippten beide an unserem Kaffee.
»Was sagst du dazu, daß er jetzt plötzlich Frankreich ins Spiel bringt?« fragte ich.
»Der Täter ist offenbar nicht dumm, und er weiß, was in der Welt los ist. Zur Zeit der französischen Atomwaffentests waren unsere Beziehungen zu Frankreich außerordentlich gespannt. Du erinnerst dich sicher noch an die Ausschreitungen. Französischer Wein und andere Produkte wurden boykottiert. Es gab viele Demonstrationen vor den französischen Botschaften. Und die USA haben da fleißig mitgemischt.«
»Aber das ist schon ein paar Jahre her.«
»Das spielt keine Rolle. Wunden heilen langsam.« Er starrte aus dem Fenster in die einbrechende Dunkelheit. »Aber das Entscheidende ist folgendes: Die Franzosen werden sich bedanken, wenn sie auf einmal unseren Serienmörder am Hals haben. Ich nehme mal an, das ist es, worauf deadoc hinauswill.
Die Polizei in Frankreich und in anderen Ländern sorgt sich
Weitere Kostenlose Bücher