Der Keim des Verderbens
darauf hinweisen, daß Keith Pleasants hinter seinem Haus eine Art Werkstatt hat«, erinnerte Ring uns. »Mit einer großen Werkbank darin, und die Wände sind aus ungestrichenem Holz.« Er sah mich an. »Was auf einem Foto hellgrau aussehen könnte.«
»Da wäre es bestimmt verflucht schwer gewesen, das ganze Blut wieder wegzubekommen«, gab Grigg zu bedenken.
»Vielleicht gibt es deswegen kein Blut, weil er eine Abdeckplane mit einer Gummibeschichtung verwendet hat«, sagte Ring. »Das war ja der Sinn - daß nichts durchleckt.«
Alle sahen mich erwartungsvoll an.
»Es wäre schon sehr ungewöhnlich, wenn in so einem Fall nicht alles mit Blut verschmiert worden wäre«, entgegnete ich. »Zumal sie noch einen Blutdruck hatte, als sie enthauptet wurde. Zumindest in der Holzmaserung und in kleinen Rissen auf der Tischplatte müsste Blut zu finden sein.«
»Das könnten wir doch testen.« Jetzt spielte Ring sich auch noch als Kriminaltechniker auf. »Mit einer Chemikalie wie Luminol zum Beispiel reagiert noch die kleinste Blutspur und leuchtet dann im Dunkeln.«
»Das Problem bei Luminol ist, daß es die Spuren zerstört«, antwortete ich. »Wir brauchen gegebenenfalls einen DNS-Test, um das Opfer identifizieren zu können. Da dürfen wir das bisschen Blut, das wir möglicherweise finden, doch nicht ruinieren.«
»Wir haben ohnehin keinen triftigen Grund, in Pleasants' Werkstatt zu gehen und anzufangen, irgendwelche Tests zu machen.« Streitlustig starrte Grigg Ring über den Tisch hinweg an.
»Ich denke schon.« Ring hielt seinem Blick stand.
»Nicht, wenn heute noch dieselben Richtlinien gelten wie gestern.« Grigg sprach langsam und bedächtig.
Wesley beschränkte sich auf die Position des Beobachters.
Wie üblich bildete er sich sein eigenes Urteil über die Anwesenden und jedes Wort, das gesprochen wurde, und höchstwahrscheinlich traf es zu. Doch er schwieg, während die Auseinandersetzung ihren Lauf nahm.
»Also, ich ...«, versuchte Lucy das Wort zu ergreifen.
»Es ist zum Beispiel durchaus denkbar, daß wir es mit einem Nachahmungstäter zu tun haben«, sagte Ring.
»Oh, das ist ganz meine Meinung«, sagte Grigg. »Ich halte nur nichts von Ihrer Theorie, was Pleasants betrifft.«
»Lassen Sie mich ausreden.« Lucys durchdringender Blick wanderte von einem zum anderen. »Also, ich erkläre Ihnen jetzt mal, wie die zwei Dateien via America Online an Dr. Scarpettas E-Mail-Adresse geschickt wurden.«
Für meine Ohren klang es immer seltsam, wenn sie mich so nannte.
»Da bin ich aber neugierig.« Ring stützte jetzt sein Kinn in die Hand und musterte sie eingehend.
»Als erstes braucht man einen Scanner«, fuhr sie fort. »Ein Farbscanner mit einer passablen Auflösung, also so ab 72 dpi, ist nicht schwer zu bekommen. Aber dies sieht mir nach einer höheren Auflösung aus, vielleicht 300 dpi. Es kann sich um alles mögliche handeln - von einem ganz einfachen Gerät wie einem Handscanner für 399 Dollar bis zu einem 35-Millimeter-Dia-Scanner, dessen Preis in die Tausende gehen kann .«
»Und an was für einen Computer würde man so etwas anschließen?« fragte Ring.
»Dazu wollte ich gerade kommen.« Lucy war es leid, ständig von ihm unterbrochen zu werden. »Systemanforderungen: mindestens acht Megabyte RAM, Farbmonitor, ein Programm wie FotoTouch oder ScanMan und ein Modem. Es könnte ein Macintosh sein, ein Performa 6116 CD oder sogar ein noch älteres Gerät. Der Punkt ist ja, daß es für den Durchschnittsbürger überhaupt kein Problem ist, Dateien in den Computer einzuscannen und übers Internet zu verschicken. Deshalb hält uns die Online-Kriminalität ja heutzutage derart in Atem.«
»Wie zum Beispiel dieser große Kinderpornographiefall, den Sie gerade geknackt haben«, sagte Grigg.
»Ja. Fotos werden als Dateien durchs World Wide Web geschickt. Auch da gibt es Pädophilie«, sagte sie. »Interessant an diesem Fall ist, daß es sich um Farbfotos handelt. Das Scannen von Schwarzweißfotos ist nicht weiter schwierig. Bei Farbe hingegen wird es kompliziert. Außerdem sind die Ecken und Kanten auf den Fotos, die Dr. Scarpetta bekommen hat, relativ scharf, es gibt nur ein geringes Rauschen.«
»Klingt, als hätten wir es mit jemandem zu tun, der sich auskennt«, sagte Grigg.
»Ja«, stimmte sie zu. »Aber deswegen muss es noch lange kein Computertechniker oder Grafiker gewesen sein.«
»Heutzutage kann so was jeder, der Zugang zu dem entsprechenden Equipment und ein paar Handbüchern
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