Der Kelch von Anavrin. Adrian schreibt als Lara Tina St. John - Adrian schreibt als Tina St. John, L: Kelch von Anavrin
klang Braedons Stimme eher verärgert als besorgt. Ariana vermutete ihn immer noch an der Ruderpinne. Selbst zu dieser späten Stunde stand er wachsam an Achtern und steuerte das Schiff Richtung Frankreich. Es war bitterkalt. Ohne die Wärme der matten Sonne war der Februarabend richtiggehend frostig geworden, aber Ariana empfand die eiskalte Luft als angenehm. Zusammengekauert hatte sie auf dem zerwühlten Lager unter dem Vordeck gelegen und freute sich nun darauf, die steifen, schmerzenden Glieder ausstrecken zu können. Ihre Lungen sehnten sich nach frischer Seeluft.
»Ein wenig besser, denke ich«, antwortete sie. Sie legte sich eine der Wolldecken um die Schulter und kroch auf das offene Deck. »Dauert es noch lange, bis wir Frankreich erreichen?«
»Das Leuchtfeuer an Calais’ Küste sollte einige Stunden vor Einbruch der Dämmerung auftauchen.«
Sie konnte Braedon nicht sehen. Er stand an Achtern am Steuerruder und wurde von dem großen Segel verdeckt, das sich wie von Geisterhand in der Brise blähte. Bedächtig und immer in der Angst, ihr Magen könnte wieder rebellieren, verließ Ariana die schützenden Wände des Vordecks und erhob sich. Sie streckte die Hand aus und stützte sich an den glatten, wetterharten Bordwänden ab, während sie ihren Beinen Zeit gab, sich an das Auf und Ab des Schiffs zu gewöhnen. Sie war noch unsicher, aber immerhin drehte sich nicht mehr alles in ihrem Kopf, und auch ihr Magen protestierte nicht.
»Besser?«, fragte Braedon, als wolle er feststellen, dass sie auch wirklich aufrecht stand und nicht gleich wieder mit der Hand an den Bauch gepresst zur Bordwand rennen musste.
Ariana nickte, fragte sich aber, ob er ihre stumme Antwort in der Dunkelheit überhaupt sehen konnte, zumal sie noch von dem Segel verdeckt wurde. Nur eine schmale Mondsichel stand am Himmel, die Sterne wurden weitestgehend von dünnen grauen Wolken verborgen.
So weit von der Küste entfernt wirkte die Nacht endlos und tief, so ganz anders als an den Abenden, wenn Ariana zu Hause des Nachts draußen gewesen war. So ruhig; nur das rhythmische Klatschen der Wellen, das leise Sirren der Leinen und das Flattern und Rauschen des Segeltuchs waren zu hören. Das helle Segel hob sich scharf vom dunklen Firmament ab und blähte sich über ihrem Kopf, als treibe allein Gottes Atem die kleine Kogge über die sanften Wellen.
Sie schloss die Augen und betete leise für Kenricks Sicherheit und eine ruhige Fahrt. Bis zum nächsten Vollmond blieb ihr nicht mehr viel Zeit, vielleicht weniger als drei Wochen, und dann würden die Entführer das, was sie gefordert hatten, in Rouen entgegennehmen wollen.
Das Auslösepfand, dachte Ariana mit gerunzelter Stirn. Nicht zum ersten Mal wunderte sie sich über den sonderbaren Inhalt ihrer Ledertasche. Was wollten Kenricks Entführer nur mit einem Stapel unleserlicher Notizen und unverständlichen Diagrammen? Sie wusste, dass die Aufzeichnungen ihrem gelehrten Bruder viel bedeutet hatten, aber er hatte seine kleine Schwester nie in seine Forschungen eingeweiht.
Und auch sonst niemanden, soweit sie das beurteilen konnte.
Welche Geheimnisse die Tasche auch immer enthalten mochte, Kenrick war von den Schriften besessen gewesen. Die übertriebene Beschäftigung damit musste in der Zeit begonnen haben, als ihr Bruder noch als Armer Ritter Christi vom Tempel Salomons gedient hatte. Die Pflichten der Bruderschaft hatten ihn über Jahre hinweg von Clairmont ferngehalten. Schließlich war er gegen Ende des Sommers unerwartet heimgekehrt und hatte verkündet, er habe die Templer verlassen. Ariana war außer sich vor Freude gewesen, ihn zu sehen, aber ihre Begeisterung ließ schon bald nach seiner Ankunft nach. Er hatte sich verändert. Er empfing keinen Besuch und verbrachte Stunden auf seinem Zimmer, dessen schwere Eichentür er von innen verriegelte. Womit er sich beschäftigte, verriet er mit keinem Wort.
Früher waren sie und Kenrick sehr vertraut miteinander gewesen, doch dem ernsthaften Ritter, als der er nach so langer Zeit heimgekehrt war, lag eine unsichtbare Last auf seinen Schultern. Er zog sich zurück, sprach nur einsilbig, blieb allein und vertraute niemandem. Nicht einmal ihr, seiner kleinen Schwester. Eine Erkenntnis, die Ariana schmerzte.
Als sie eines Morgens im Herbst aufgewacht war und erfahren hatte, dass er, ohne Lebewohl zu sagen, in einer geheimnisvollen Angelegenheit nach Frankreich aufgebrochen war, tat sie, was jede andere jüngere Schwester an ihrer
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