Der Kelch von Anavrin. Adrian schreibt als Lara Tina St. John - Adrian schreibt als Tina St. John, L: Kelch von Anavrin
liegen Decken, wenn Euch kalt ist.«
Braedon wies mit einer Hand auf einen Verschlag unterhalb der Plattform, auf der er stand. Selbst im Schutz des Vordecks fror sie furchtbar. Der Wind frischte stärker auf, je länger sie auf die offene See zuhielten, und Ariana war froh über die Aussicht auf wärmende Decken. Langsam kroch sie aufs offene Deck und versuchte aufzustehen.
Doch sie war weder auf das unkontrollierte Zittern ihrer Beine noch auf das Rollen des Schiffs vorbereitet. Sie taumelte einige Schritte zur Seite und kam der Reling dabei gefährlich nah. Nicht weit von ihr toste die schwarze See, eiskalte Wellen klatschten gegen den bauchigen Rumpf der Kogge und zerstoben in tänzelnden Gischtkronen. Keuchend umklammerte Ariana die Reling und starrte in das kalte, dunkle Meerwasser.
»Ruhig Blut!«, rief Braedon ihr zu. Er hatte das Ruder verlassen, war im Handumdrehen bei ihr und hielt sie fest, ehe sie den nächsten Atemzug tun konnte. Er legte ihr einen starken Arm fest um ihre Taille und führte sie von der Bordwand fort. »Seid Ihr schon einmal auf einem Schiff gewesen?«
»N…ein«, stammelte sie.
Der unwirsche Laut, den er von sich gab, sprach für sich. »Seid vorsichtig. Es wird eine Weile dauern, bis Ihr Euch an die See gewöhnt habt.«
Ariana nickte. Obwohl er sie mittlerweile losgelassen hatte, klammerte sie sich noch immer an seinen kraftvollen Körper. Sie war so beschäftigt, ihr Gleichgewicht in einer Welt wiederzufinden, die unsicher und unberechenbar schien, dass sie es gar nicht bemerkte. Und jetzt, da sie wieder aufrecht stand, machte ihr auch noch ihr Magen zu schaffen.
»Wie … lange dauert das?«, fragte sie, wobei sie Mühe hatte, ein verständliches Wort herauszubringen.
»Einige Leute gewöhnen sich nie daran.« Er zuckte die Schultern und musterte sie mit hochgezogener Braue. »Wenn Ihr jedoch Glück habt, wird es Euch schon in ein paar Stunden besser gehen.«
Wieder erfasste sie Übelkeit, doch auch die würde sie bereitwillig über sich ergehen lassen, wenn sie dadurch Kenricks Leben retten konnte. Nachdrücklich nickte sie – langsam, denn jede Bewegung ließ ihre Sicht verschwimmen. »Und wie lange noch, bis wir Frankreich erreichen?«
»Calais ist der nächste Hafen. Weniger als eine Tagesreise bei gutem Wetter. Mehr als zwei Tage bei schlechtem.«
»Und Rouen?«
»Auf See müssten wir erst Honfleur anlaufen. Das könnte eine Woche dauern.«
Ariana konnte kaum ein enttäuschtes Seufzen unterdrücken. Stand ihr womöglich eine Woche auf rauer See bevor? Bei dieser Vorstellung regte sich ihr bedauernswerter Magen erneut, aber sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass alles andere unbedeutend war, wenn sie nur rechtzeitig – und allein, wie es in dem Schreiben der Entführer hieß – beim nächsten Vollmond am vereinbarten Treffpunkt erschien. Nichts anderes zählte. Und schon gar nicht ein leichter Anflug von Seekrankheit.
Als sie den Blick von den grob gezimmerten Planken des Decks hob, sah sie, dass Braedon sie mit einem wissenden Blick musterte. »Geht es Euch gut? Ihr seht ein wenig grün im Gesicht aus, Mylady.«
»Es geht schon«, stieß sie mühsam hervor. »Mir geht … es … gut.«
Sie dachte erst gar nicht darüber nach, ob er ihr glaubte oder sich gar Sorgen um sie machte. Eine Hand vor den Mund und die andere auf ihren rumorenden Bauch gepresst stürmte Ariana Richtung Bordwand. Keinen Augenblick zu früh.
5
Tiefe Dunkelheit umgab Ariana, als sie wieder die Augen aufschlug. Sie hatte unter dem Vordeck geschlafen. Nur so war die schreckliche Übelkeit zu ertragen, die ihr fast während der gesamten Fahrt ein unliebsamer Begleiter war. Zum Glück hatte sie sich kein weiteres Mal übergeben müssen, und so hoffte sie, den Rest der Überfahrt ohne weitere Demütigungen zu überstehen.
Nicht, dass Braedon zu ihrer Verlegenheit beigetragen hätte. In seiner schroffen Art war er sogar recht verständnisvoll gewesen. Er hatte sie von der Bordwand weggeführt, ihr die Decken aus dem Schott geholt und eine lederne Flasche mit Wasser sowie einige getrocknete Minzblätter gegeben, die sie mehrmals in kleiner Dosierung essen sollte, bis ihr Magen sich wieder beruhigt hatte. Jetzt, da sie wach war, entkorkte sie die Flasche und spülte den Mund mit dem kühlen Wasser aus. So unauffällig wie möglich spuckte sie es über die Bordwand, dann nahm sie einen kräftigen Schluck, da ihr Hals fürchterlich trocken war.
»Wie geht es Euch?«
In der Stille der Nacht
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