Der Kelch von Anavrin. Adrian schreibt als Lara Tina St. John - Adrian schreibt als Tina St. John, L: Kelch von Anavrin
Närrin, Ariana of Clairmont.«
Obwohl sein Spott ihren Stolz verletzte, atmete sie erleichtert auf. Besser, er hielt sie für dumm, als dass er sie noch länger nach dem Inhalt der Tasche oder dem wahren Grund ihrer Reise nach Rouen fragte.
»Seid Ihr hungrig, Madame?«
»N…Nein.« Ariana schüttelte den Kopf. Sie konnte nicht ans Essen denken, wenn ihr schwindlig und flau im Magen war.
»Macht, was Ihr wollt«, erwiderte Braedon, griff in einen Korb, der unter der Sitzbank stand, und holte etwas zu essen hervor. »Was steht Ihr da herum? Ihr könntet Euch genauso gut nützlich machen. Bringt mir die Wasserflasche. Ich schätze, es ist an der Zeit, dass Ihr Euch Eure Überfahrt verdient.«
Heilige Mutter Maria.
Ihre anfängliche Erleichterung, den bohrenden Fragen entkommen zu sein, wich Panik. Sie musste nicht nur zum Vordeck, um das Wasser zu holen, sondern auch zurück zu ihm über das gesamte Boot – um sich die Überfahrt zu verdienen. Der Himmel allein wusste, was er damit meinte. Ariana war sich sicher, dass sie es gar nicht so genau wissen wollte.
Sie überlegte, ihn zu bitten, sie zu verschonen, hatte aber keine Ahnung, ob er ihr die Gnade gewähren würde. Vielleicht löste der gefahrvolle Weg über das Deck ja auch eine neue Übelkeit in ihr aus – wenn sie Glück hatte.
Möglicherweise würde sie die Balance verlieren und über Bord gehen: Dann hätte diese Katastrophe, in die sie mit diesem sie verunsichernden Mann hineingeraten war, wenigstens ein plötzliches Ende.
Ariana verwarf die letzte Möglichkeit, würde die doch nicht nur ihren mit Absicht herbeigeführten Tod bedeuten, sondern auch, dass sie den Schwur, ihrem Bruder zu helfen, brechen müsste. Vorsichtig ging sie zum Vordeck, nahm die Wasserflasche und überquerte dann das Deck – alles in allem waren es etwa sechzig Schritte, die sie ganz passabel meisterte. Als sie das Kastell erreichte, stand Braedon oben an der Leiter, die zu der erhöhten Plattform hinaufführte, und hatte die Hände in die Hüften gestemmt. Die Andeutung eines neckenden Lächelns umspielte seine Mundwinkel, als er auf Ariana hinabschaute.
»Ihr würdet einen guten Schiffskameraden abgeben.«
»Das würdet Ihr sowieso nicht bemerken«, gab sie zurück und versuchte sich nicht über sein Lob zu freuen. »Soweit ich das einschätzen kann, seid Ihr lieber für Euch selbst. Ihr habt keine Freunde, keine Mannschaft … Macht Ihr alles allein?«
Er gab ein Glucksen von sich, als habe sie soeben einen Scherz gemacht. »Nicht alles.«
Sie reckte den Arm in die Höhe, um Braedon die Trinkflasche aus Leder zu reichen. Er bückte sich und streckte ihr die Hand entgegen, doch anstatt die Flasche zu nehmen, schlossen sich seine langen Finger um Arianas Handgelenk. »W…was macht Ihr da?«
»Ich helfe Euch herauf.«
Es war zu spät, um das Für und Wider abzuwägen. Braedons Griff war fest und sein Arm unglaublich stark, als er sie zu sich auf das Achterdeck zog. Ariana setzte die Füße auf die Sprossen und erklomm die Leiter zur Plattform des Kastells. Der Ausblick raubte ihr fast den Atem. So weit das Auge reichte, erstreckte sich die glitzernde See, die rauschenden schwarzen Wellen hatten sich durch das Licht des schlanken Sichelmonds und der funkelnden Sterne silbern gefärbt. Es gab keinen Horizont, der den Blick in dieser sich scheinbar endlos ausbreitenden Welt begrenzt hätte. Aber das Meer hatte auch etwas Einsames an sich. Sie spürte es in dem kalten Wind, der sie von allen Seiten erfasste, die Taue sirren ließ und an dem großen Segel riss. Ariana fühlte die Einsamkeit in der Weite dieser lichtlosen Welt ohne feste Konturen.
Und sie spürte, dass auch Braedon diese Einsamkeit in sich trug.
»Es muss furchtbar still sein, wenn man tagelang auf sich gestellt ist. Und gefährlich, wenn man ein Schiff wie dieses ganz allein lenkt.«
Er saß auf der Bank hinter ihr, die rechte Hand am Steuerruder, während er in der anderen ein Stück geräuchertes Hammelfleisch hielt. Er blieb ihr eine Antwort schuldig, biss stattdessen in das Fleisch, richtete den Blick auf das Wasser, kaute genüsslich und sah zu einem hellen Stern hinauf. »Ich mag die Stille.«
»Und die Gefahr?«
»Die einzige Gefahr hier draußen ist der Tod, und auch der ist nur halb so schlimm, wenn man keine Angst vor ihm hat.« Die Wasserflasche rollte neben ihm auf der Bank hin und her. Er griff danach, zog den Korken heraus, setzte sie an die Lippen und nahm einen kräftigen Schluck.
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