Der Kelch von Anavrin. Adrian schreibt als Lara Tina St. John - Adrian schreibt als Tina St. John, L: Kelch von Anavrin
Stelle getan hätte: Sie schlich in seine Räume, um herauszufinden, was ihren Bruder zu dem überstürzten Aufbruch veranlasst haben mochte. Erst einige Tage später entdeckte sie die Ledertasche und deren Inhalt, der ihr jedoch auch keine Erkenntnisse brachte.
Kenricks Notizen ergaben wenig Sinn. Ariana entdeckte Stellen, die in einem eigentümlichen, unleserlichen Latein verfasst waren und immer wieder von hastig hingeworfenen Zeichnungen und ausufernden Berechnungen unterbrochen wurden. Das wenige, das sie sich zusammenreimen konnte, klang nach irgendwelchen Wundern und seltsamen Begebenheiten, nach merkwürdigen Ereignissen in verschiedenen Orten in England und Frankreich. Kenrick hatte die Geschehnisse auf unzähligen Pergamentpapieren in ihrer zeitlichen Abfolge festgehalten, einige Zeilen verwiesen mit Pfeilen und Randbemerkungen aufeinander, wiederum andere Sätze waren durchgestrichen. Soweit Ariana es beurteilen konnte, handelte sich es bei den Schriften um blanken Unfug. Nachdem sie sich lange genug den Kopf über seine sonderbaren Notizen zerbrochen hatte, beschlich sie immer stärker der Verdacht, ihr geliebter Bruder habe womöglich den Verstand verloren.
Den Gedanken hegte sie bis zu dem Tag, an dem ein anonymes Schreiben auf Clairmont abgegeben wurde, in dem Kenricks Gefangennahme mitgeteilt und die Herausgabe seiner Forschungen verlangt wurde. Woran ihr Bruder auch immer gearbeitet haben mochte, die Niederschriften waren für die Schurken, die ihn als Geisel genommen hatten, offenbar von großer Wichtigkeit. Aber wer waren diese Leute … und was hatte es mit Kenricks Schriftstücken auf sich?
»Da Ihr ja jetzt wach seid, könnten wir uns ein wenig unterhalten, Madame.«
Braedons tiefe Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Unterhalten, Sir?«
»Ja, tretet zu mir. Dann kann ich Euch besser sehen.«
Allein der Gedanke, sich auf dem schwankenden Schiff fortbewegen zu müssen, jagte Ariana einen Schauer über den Rücken. Trotzdem machte sie einige zögerliche Schritte in die Richtung, aus der sie Braedons Stimme vernommen hatte. Sie wagte nicht, sich an Deck umzuschauen, weil sie befürchtete, die Balance zu verlieren. Während sie einen weiteren vorsichtigen Schritt machte, schaute sie auf ihre Füße, die im schwachen Mondlicht nur zu erahnen waren. Sobald sie das Segel umrundet hatte, hielt sie sich an einer der Leinen fest, um das Gleichgewicht zu bewahren. Sie zitterte noch immer leicht und traute sich nicht recht, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Jeder Schritt war eine Überwindung.
Als sie endlich den Mut zusammennahm, um den Blick von den Planken zu heben, sah sie Braedon auf dem Hinterdeck. Gleichmütig beobachtete er jede ihrer zögerlichen Bewegungen. In die Rückwand des Achterkastells war eine Bank eingelassen, vermutlich um dem Steuermann die Möglichkeit zu einer Pause zu geben. Auf diesem Sitz hatte Braedon es sich mit ausgestreckten Beinen bequem gemacht, die schwarzen Stiefel schimmerten im schwachen Sternenlicht. Der linke Arm hing lässig über die Bordwand, die rechte Hand ruhte auf dem Griff, der mit dem Ruderblatt der Kogge verbunden war.
Selbst in der schwarzen Nacht wirkten die Umrisse von Braedons Körper dunkel. Er war wie ein Schatten, und das fahle Mondlicht, das durch die Wolkenfetzen drang, unterstrich die scharfen Konturen seines Gesichts. Ariana konnte deutlich spüren, wie sein musternder Blick über sie glitt.
Sie zwang sich, möglichst unbeschwert zu klingen, während sie die Leine des Segels fester umklammerte. »Worüber wollt Ihr mit mir sprechen?«
»Oh, es gibt viel zu bereden, das könnt Ihr mir glauben.« Sein Lächeln, für das er für einen kurzen Moment weiße, ebenmäßige Zähne entblößte, konnte sie kaum beruhigen. »Zuallererst, Madame, frage ich mich, warum Ferrand de Paris Euch den Tod wünscht.«
»Mir?« Ariana verschlug es die Sprache. Der Gedanke, dass sie womöglich das Ziel eines Mordanschlags gewesen sein sollte, verblüffte sie. »Ihr und Monsieur Ferrand wirktet auch nicht gerade wie beste Freunde. Was macht Euch so sicher, dass es seine Leute nicht auf Euch abgesehen hatten?«
Er wandte seinen durchdringenden Blick von ihr und schaute wie beiläufig in den Nachthimmel. »Ferrand und mich verbindet ein gegenseitiges Misstrauen, das ist wahr. Aber wenn er einen Grund hätte, mir den Tod zu wünschen, hätte er mich schon längst aus dem Weg geräumt. Daher bleibt nur Ihr übrig, Ariana of Clairmont. Was könnte ein Mann wie
Weitere Kostenlose Bücher