Der Kelch von Anavrin: Das magische Siegel (German Edition)
vierzehn Tagen, ehe ich Euch fand. Im Fieberwahn seid Ihr durch Greycliff Castle gestreift. Die Spitze des Messers steckte noch immer in Eurer Wunde. Sie vergiftete Euer Blut. Der Stich selbst hat Euch nicht getötet, aber Ihr wärt bald an den Folgen der Entzündung gestorben.«
Sie hörte seine Worte und ahnte, dass seine Ausführungen der Wahrheit entsprachen. Die Schmerzen, die sie am ganzen Leib fühlte, schienen all dies zu bestätigen. Tief in den dunklen Winkeln ihrer Erinnerung blitzte ein stechender Schmerz auf, und plötzlich glaubte sie, sich auf nächtlichen Klippen zu sehen, durchlebte aufs Neue den Sturz, wähnte sich unmittelbar neben einer tosenden Brandung, ehe sie in tiefe Bewusstlosigkeit versank. Dunkel entsann sie sich starker Arme, die sie hochhoben und ihr Halt boten, als sie selbst jeglicher Kraft beraubt war. »Ich kann mich kaum erinnern … das meiste ist verschwommen … in unerreichbarer Ferne.«
»Es stand wahrlich schlimm um Euch«, sagte Lady Ariana. »Vielleicht ist es Gottes Wille, dass Ihr Euch nicht genau an das Leid erinnern sollt, das Euch widerfahren ist.«
»Vielleicht«, murmelte Kenrick. Erst jetzt fiel Haven auf, dass er etwas in der Hand hielt. Als er sie öffnete, fiel Havens Blick auf ein kleines dreieckiges Stück Metall. »Sagt, erkennt Ihr dies wieder?«
»Was ist das?«, fragte Ariana, offenbar überrascht von Kenricks Vorstoß. Ein leichter Tadel schwang in ihrer ahnungsvollen Stimme mit. »Kenrick, was hältst du da in der Hand?«
»Gleich, Ana. Ich möchte erst hören, was Haven dazu zu sagen hat«, erwiderte er kühl und heftete den Blick auf Haven.
Er ging um das Bett herum und hielt ihr die Hand hin, damit sie den kleinen Gegenstand besser sehen konnte. Die abgebrochene Spitze der Waffe lag in seiner großen Hand, ein keilförmiges Stück dunklen Stahls, nicht größer als sein Daumennagel. Mochte es noch so klein sein, das Stück besaß einen eigenartigen Schimmer. Das Licht brach sich an den filigranen Verzierungen und ließ die Spitze aufleuchten, je nachdem, wie Kenrick die Hand gerade hielt.
Eine ganze Weile starrte Haven auf das Stück Metall, unsicher, und doch …
Plötzlich stürmten andere Bilder auf sie ein, ungebetene Erinnerungsfetzen voller Düsterkeit und Gewalt. Sie sah Feuer und Rauch, unbarmherzig niedersausende Klingen, hörte Schreie des Entsetzens und nahm den unverwechselbaren Geruch vergossenen Blutes wahr. Erschrocken sog sie die Luft ein und wandte dann rasch den Blick von der unheimlich glimmenden Dolchspitze in Kenricks Hand ab.
»Ihr seid dort gewesen, als Greycliff Castle überfallen wurde«, sagte er. Dies war keine Frage, sondern eine kühle Feststellung. »Erzählt mir, was Ihr gesehen habt, Haven. Vermutlich seid Ihr der einzige Zeuge des Überfalls auf Elspeth und ihre Familie. Ich muss wissen, was in jener Nacht geschehen ist. Alles. Wer die Angreifer waren, was sie getan haben – Ihr müsst mir alles erzählen, an das Ihr Euch erinnern könnt.«
Schweigend blickte sie aus dem Fenster zu ihrer Linken. Zwar hörte sie das ungeduldige Seufzen des Ritters, achtete aber nicht weiter darauf.
»Wer hat auf Euch eingestochen, Haven?«
Ungebrochen bestürmten die Bilder sie, unzusammenhängend und unscharf. »Ich weiß nicht … « Sie schüttelte den Kopf und schloss die Augen, um sich gegen die hässlichen Erinnerungen zu wehren. »Ich bin mir nicht sicher, was ich gesehen habe. Alles ist so verschwommen.«
»Bei allem, was uns heilig ist, Ihr müsst nachdenken!«
»Kenrick«, mischte sich seine Schwester erneut ein und stand auf, als dieser näher an das Bett herantrat und die Kranke am Arm berührte. »Genug jetzt. Bitte, gönn ihr etwas Ruhe.«
»Meine Freunde sind tot, Ariana. Das verfolgt mich. Und wie es aussieht, ist diese Frau vielleicht der einzige Mensch, der mir berichten kann, was sich in der Nacht des Überfalls ereignet hat. Ich brauche diese Antworten.« Er fixierte Haven mit strengem Blick. »Und ich werde sie erhalten.«
»Aber ich habe Euch alles erzählt, was ich weiß«, protestierte sie, während Verzweiflung sie erfasste. »Ich kann mich nicht erinnern, was geschah. Ihr wisst genauso viel wie ich, das schwöre ich.«
»In der Tat.« Er fluchte leise, ging wieder um das Bett herum und strebte zur Tür hin. »Bleibt zu hoffen, dass sich Euer Erinnerungsvermögen während Eurer Genesung wieder einstellt«, sagte er und öffnete die Tür. »Bis dahin steht Ihr unter meiner Beobachtung.«
Lady
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