Der Kelch von Anavrin: Das magische Siegel (German Edition)
zugebracht, den Sinn all dieser Aufzeichnungen zu erfassen. De Mortaine ist bereits im Besitz eines Teils meiner Schriften, aber wenn er oder seine Helfershelfer nun auch über das Siegel verfügen … «
Kenrick unterbrach sich mit einem leisen Fluch.
»Vielleicht hat Randwulf of Greycliff es zerstört, damit es nicht in falsche Hände geriet.«
»Was macht dich auf einmal so zuversichtlich, le Chasseur?« Kenrick musste lachen, doch die Laute klangen in der trüben Stimmung des Gemachs eher freudlos. »Nein, keiner von uns sollte auf diese Wendung hoffen. Rand hätte das Siegel niemals zerstört und es auch nicht den Schurken überlassen, die seine Burg überfielen. Kein Wort über den Verbleib des wertvollen Stücks wäre ihm über die Lippen gekommen.«
»Nicht einmal, wenn seine Gemahlin oder sein Kind vor seinen Augen gefoltert wurden?« Braedon sprach so ernst, dass Kenrick ein kalter Schauer über den Rücken fuhr. »Glaub nicht, dass diese Bastarde nicht dazu fähig wären. Denen ist nichts heilig. Das weißt du.«
Kenrick verspürte einen bitteren Geschmack in der Kehle, als er sich ausmalte, was seinen Freunden an Grausamkeiten zugefügt worden sein mochte. Randwulf of Greycliff war ein kräftiger Mann, ein robuster Recke mit einem unerschütterlichen Ehrgefühl. Er wusste, mit welch ernstem Anliegen Kenrick ihn betraut hatte, und dieses Vertrauen hätte Rand niemals enttäuscht. Aber was hatte er deswegen erleiden müssen?
»Verflucht. Was habe ich ihnen nur zugemutet?«
Kenrick wurde in seiner Reue unterbrochen, als der Schnappriegel der Tür zu hören war. Kein Klopfen, kein höfliches Warten, hereingebeten zu werden. Stattdessen schwang die Eichentür auf. Ariana kam herein, die Hände in die Seiten gestemmt, den tadelnden Blick auf ihren Bruder geheftet.
»Störe ich?« Zwar stellte sie diese Frage, aber allein ihr herausfordernd emporgerecktes Kinn verriet den Männern, dass es keiner wagen solle, ihr zu sagen, dass sie nicht willkommen sei. »Nur zu, fahrt in eurer Unterhaltung fort, werte Herren.«
Braedon räusperte sich.
»Wir haben schon alles besprochen«, meinte Kenrick, als seine Schwester tiefer in das Turmgemach trat und beide Männer mit prüfenden Blicken taxierte. Kenrick schlug sein Tagebuch zu, ehe Ariana einen Blick auf seine Aufzeichnungen werfen konnte. Der plötzliche Drang, ihr seine Arbeit vorzuenthalten, entging ihr nicht, aber im Augenblick schien sie andere Dinge auf dem Herzen zu haben.
»Würdest du mir bitte sagen, was das vorhin sollte?«
»Ich habe der Frau lediglich ein paar Fragen gestellt.«
»Das sah eher nach einem Verhör aus. Du hast sie sehr beunruhigt, Kenrick. Sonst ist es doch gar nicht deine Art, so schroff und rücksichtslos zu sein.«
»In den zurückliegenden Wochen ist viel geschehen, wie du sehr wohl weißt. Antworten müssen gefunden werden, aber die Zeit wird auch knapp. Ich habe die Frau nicht aus einer üblen Laune heraus befragt.« Er griff nach einem Weinkelch und nahm einen Schluck. »Wie dem auch sei, ich halte es in jedem Fall für ratsam, diese Haven genau im Auge zu behalten. Sie weiß mehr, als sie zugibt, dessen bin ich mir sicher. Etwas stimmt nicht mit ihr. Ich traue ihr nicht so recht.«
»Ist es dir auch nur einen Augenblick lang in den Sinn gekommen, dass Haven dir womöglich nicht traut? Dass sie sogar Angst vor dir hat?«
Kenrick runzelte die Stirn und warf einen spöttischen Blick in Braedons Richtung. »Ihr zwei passt wahrlich gut zueinander.« Als Braedon schmunzelte, schaute Kenrick wieder Ariana an und hielt ihrem tadelnden Blick stand. »Habe ich der Frau irgendeinen Grund gegeben, ängstlich in einer Ecke zu kauern?«
Ariana seufzte ungehalten. »Weißt du, was ihr an Leid widerfahren ist, mein lieber Bruder? Versetz dich doch bitte einmal in ihre Lage. Sie wacht an einem fremden Ort auf, verletzt und geschwächt, sieht Leute, die sie überhaupt nicht kennt. Einer von ihnen mustert sie mit finsterer Miene und stellt sie schroff zur Rede, als wäre sie eine gemeine Diebin, die an den Pranger gehört. Um Himmels willen, Kenrick, du hältst sie hier wie eine Gefangene; zumindest hast du das angedeutet, als du ihren Raum vorhin verlassen hast.«
Tiefe Furchen erschienen auf seiner Stirn, während er den Vorwürfen seiner Schwester zuhörte. Sie hatte nicht ganz unrecht, das musste er widerwillig zugeben. Dennoch sagte er: »Ich darf kein Risiko eingehen, Ariana. Wir können es uns nicht leisten, unvorsichtig zu
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