Der Kelch von Anavrin: Das magische Siegel (German Edition)
Jahre hinweg mit diesem Ort beschäftigt hatte, war ihm der Name seit Monaten nicht mehr über die Lippen gekommen.
Anavrin.
Das Reich, aus dem der Drachenkelch stammte, eine mystische Welt, die der Legende nach neben der wirklichen Welt existierte und von wohlwollenden Unsterblichen beherrscht wurde. Es hieß, seelenlose Krieger, die über magische Kräfte verfügten und jede Gestalt annehmen konnten, wachten über dieses Reich. Der Sage nach waren einige dieser Gestaltwandler ausgesandt worden, um den kostbaren Kelch aus der Welt der Sterblichen zurückzuholen. Denn vor vielen Jahrhunderten hatte ein skrupelloser Ritter, dem es gelungen war, unbemerkt durch die Pforten Anavrins zu kommen, das Gefäß von dort entwendet.
Für die meisten Menschen waren all diese Geschichten nichts weiter als Ausgeburten einer übersteigerten Fantasie, der Stoff, aus dem Märchen sind. Das galt aber nicht für Kenrick. Auch nicht für Braedon und Ariana. Sie hatten bereits zu viel gesehen – und die Macht des Drachenkelchs auf schmerzvolle Weise zu spüren bekommen – , um die Augen vor dem Schatz und jenen Kräften zu verschließen, die nach dem Kelch trachteten.
Auch Rand und seine Familie hatten zu viel gesehen. Ebenso Haven, deren zierlicher Leib einen beinahe tödlichen Stich von der Klinge eines Gestaltwandlers erhalten hatte.
»Sie muss dort gewesen sein«, bekräftigte Kenrick. »Beinahe hätte einer von denen sie getötet – erwürgt, niedergestochen, sterbend liegen gelassen, was weiß ich? Und doch kann sie sich an nichts erinnern.«
Braedon legte das Stückchen des getriebenen Stahls auf einen kleinen Tisch neben dem Lehnstuhl. »Natürlich glaubst du ihr nicht.«
Der ironische Tonfall ließ Kenrick aufhorchen. »Du etwa? Bei allem, was du weißt. Bei Gott, du hast viel durchmachen müssen, mehr, als manch einer von uns ertragen kann. Könntest du jemandem trauen, der womöglich etwas über Silas de Mortaine und den verfluchten Kelch weiß?«
Braedon le Chasseur, dieser einst über die Landesgrenzen hinaus berüchtigte Jäger, blieb seinem Schwager die Antwort schuldig. Drückendes Schweigen lastete auf dem Gemach. Braedon wandte den Blick von Kenrick ab und schaute in das Feuer, das im Kamin loderte, grübelnd und von einer inneren Unruhe befallen. Im Widerschein der tänzelnden Flammen huschten Licht und Schatten über die lange, silbrig aufliegende Narbe, die sich gezackt über seine linke Gesichtshälfte zog. Es war eine alte Wunde, die ihm ein Feind zugefügt hatte, lange bevor Kenrick oder Ariana von dem Jäger wussten, der dann eines Tages zu ihrer Familie gehören sollte.
Braedon hatte noch andere Narben davongetragen, eine schlimme Brandwunde vor wenigen Monaten in den Gewölben einer uralten Abtei in Frankreich. In jener Nacht hatten er, Kenrick und Ariana die wahre und furchtbare Macht des mystischen Drachenkelchs erlebt. Keiner von ihnen war unversehrt von dieser Reise zurückgekehrt. Und sie waren beileibe nicht erpicht darauf, sich erneut einer derartigen Probe zu unterziehen.
Kenrick wusste, dass er den Gemahl seiner Schwester nicht erst auf die Gefahr aufmerksam zu machen brauchte, die ihnen drohte, wenn Silas de Mortaine und dessen Helfershelfer – allesamt Abgesandte einer Zauberkraft – von ihrer Flucht erfuhren und ihren Blick auf Clairmont richteten.
De Mortaine war ein wohlhabender Mann mit weit reichenden Beziehungen, insbesondere zu den Templern, in deren Kreis Kenrick dem finsteren Adligen zum ersten Mal begegnet war. Und jetzt, da der mächtige de Mortaine eins von insgesamt vier Teilstücken des heiligen Kelchs besaß, vermochte ihm kaum noch jemand Einhalt zu gebieten. Blieben noch zwei weitere Teile. Kenricks Nachforschungen ließen zwar Vermutungen auf den Verbleib dieser Kostbarkeiten zu, aber nie schien der Hort weiter entfernt gewesen zu sein als zu diesem Zeitpunkt.
»Was ist mit dem Siegel?«, fragte Braedon und bezog sich damit auf den Gegenstand, den Kenrick vergeblich in dem Geheimfach auf dem Friedhof von Greycliff Castle gesucht hatte. »Wirst du auch ohne das Siegel mit deiner Arbeit fortfahren können?«
»Ich weiß es nicht. Noch habe ich nicht herausgefunden, wie man das Siegel benutzen muss. Ich weiß nicht, woher es stammt oder was es bewirken kann. Aber ich weiß, dass es der Schlüssel zu einem Teilstück des Kelchs ist. Und jetzt habe ich es verloren.« Er ballte die Hand zur Faust und schlug damit hart auf das Schreibpult. »Ganze Jahre habe ich damit
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