Der Kelch von Anavrin: Das magische Siegel (German Edition)
zusätzliche Sicherheit. In seinem Zorn über das Schicksal seiner Freunde wünschte sich Kenrick, er könne Silas de Mortaine gleich hier auf dem verbrannten Stück Land zum Kampf herausfordern.
Es juckte ihn in den Fingern, unheilige Vergeltung zu üben … doch erst kam die Aufgabe.
Kenrick schritt zu dem alten, von Flechten überzogenen Grabmal am hinteren Ende des Friedhofs und kauerte sich davor. Mit der Dolchspitze fand er den verborgenen Spalt in den gemeißelten Verzierungen, die den Schriftzug umgaben. Das Geheimfach, nicht größer als eine Kinderhand, war von den Schneckenverzierungen und Buchstaben verdeckt, die vor Jahren fachmännisch in den Stein gehauen worden waren. Rand und er waren nicht die Ersten gewesen, die sich dieses Verstecks bedienten. Generationen zuvor hatte eine junge Braut der Greycliffs das Grabmal benutzt, um auf diesem Weg Nachrichten und kleinere Geschenke ihres Geliebten aus königlichem Hause zu erhalten.
Jetzt allerdings enthielt der Stein ein weitaus gefährlicheres Geheimnis.
Kenrick zog die scharfe Klinge so lange durch die Ritzen neben dem Fach, bis der Deckstein sich löste. Zoll um Zoll gab der lose Stein mit schabenden Geräuschen nach. Sowie sich die letzte Ecke bewegte, ließ Kenrick den Stein in seine Hand gleiten und spähte in das kleine Geheimfach im Innern des Grabmals.
»Bei allen Heiligen!«, stieß er atemlos hervor, warf den Dolch zu Boden und war kurz davor, mit der Faust auf den Granitstein einzuschlagen.
Das Fach war leer.
Der in Pergament eingeschlagene Gegenstand, den er selbst vor über einem Jahr in das Geheimversteck gelegt hatte, befand sich nicht mehr dort.
Nun starrte er auf das leere Fach, und abertausend Fragen schwirrten in seinem Kopf herum. Was mochte geschehen sein? Wer – um alles in der Welt – hatte das Versteck gefunden? Wer hatte gewusst, wo er suchen musste? Und wie lange war das Pergament schon nicht mehr hier? Wusste der Dieb, wie er sich das entwendete Gut zunutze machen könnte?
Viel wichtiger war noch die Frage, wie er die Suche, die er einst begonnen hatte, nun zu einem Ende bringen sollte, jetzt, da es offensichtlich war, dass er ein wichtiges Unterpfand verloren hatte.
Wie die Dinge lagen, blieb ihm nicht mehr viel Zeit. Er hatte mehrere Jahre gebraucht, bis er überhaupt begriffen hatte, worum es sich bei seiner Entdeckung handelte und wie wichtig es war, die Erkenntnisse denjenigen vorzuenthalten, die sie für ihre eigenen verbrecherischen Belange benötigten. Zahllose Tage und Nächte hatte er damit verbracht, Bücher durchzuarbeiten und seine Aufzeichnungen zu vervollständigen. Jeden Hinweis hatte er aufgeschrieben, hatte in den Legendensammlungen, die in den uralten Berichten des Ordens zu finden waren, nach dem Fünkchen Wahrheit gesucht.
»Großer Gott, wie ist das möglich?«
Der letzte Schlüssel zu seiner Entdeckung, eingeschlagen in ein einzelnes Stück Pergament, befand sich in diesem Augenblick wahrscheinlich in den Händen seiner Feinde.
Er war nicht so weit gekommen, hatte nicht all die Qualen überstanden, um hier und jetzt einfach so zu versagen. Und er würde es nicht zulassen, dass Rand und dessen Familie ihr Leben umsonst verloren hatten. Rasch schob er den kleinen behauenen Granitblock an seine alte Stelle zurück, ergriff den Dolch und stand wieder auf.
Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung wahr. Diesmal war er sich ganz sicher. Ruckartig hob er den Kopf und sah sich mit wachsamen Blicken um.
Verflucht, er wurde tatsächlich beobachtet.
Leuchtende Farbtupfer, hier und da von lichtem Buschwerk verdeckt, bewegten sich an der grauen Mauer der Kapelle entlang. Kenrick erhaschte einen Blick auf weiße Haut und wachsame grüne Augen. Die unbekannte Person zögerte nur einen Moment – aber lange genug für Kenrick, um die ansprechenden Züge einer jungen Frau zu erkennen. Schrecken zeichnete sich auf ihrer Miene ab, als sie nur diesen kurzen Moment lang zu Kenrick zurückblickte. Langes, wallendes Haar von rötlich brauner Farbe umgab ihr Gesicht; im grauen Tageslicht leuchteten die üppigen Locken wie Feuer. Die Frau war schlicht gekleidet und gewiss keine Adlige, was allein die Beschaffenheit von Umhang und Rock belegte. Aber weder ihre Züge noch ihre wohlgeformte Gestalt wirkten unauffällig oder gar gewöhnlich.
Obwohl ihn der Tod seiner Freunde und der Diebstahl noch immer aufwühlten, war Kenrick nicht unempfänglich für die Schönheit des unerwarteten Eindringlings. Tatsächlich
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