Der Kelch von Anavrin: Das magische Siegel (German Edition)
gerissen, dort, wo sie einige Zeit zuvor kraftlos zu Boden gesunken war.
Wie lange mochte sie geschlafen haben?
Vielleicht Stunden, denn Dunkelheit umgab sie nun, dazu die Stille des Todes, wäre da nicht das schmerzerfüllte Wehklagen gewesen, das noch immer in den Baumkronen über ihr widerzuhallen schien.
Zweige und Fichtennadeln stachen sie an der Wange, mit der sie auf dem kalten Boden gelegen hatte. Der Geruch lehmiger Erde vermischte sich mit dem schweren Duft von Kräutern, der an ihrer Kleidung haftete. Etwas Fauliges stieg ihr in die Nase. Es gelang ihr lediglich, den Kopf ein wenig anzuheben und sich blinzelnd umzuschauen.
Im Schutz der kleinen Baumgruppe war sie zusammengebrochen – ja, jetzt erinnerte sie sich wieder.
Sie war schnell gelaufen. Doch schließlich waren ihr die Beine schwer geworden, und sie hatte nicht mehr weitergekonnt, verausgabt und ihrer Kraft beraubt. Nur bruchstückhaft konnte sie sich erinnern, hatte lediglich einzelne Bildfetzen vor Augen, verschwommen wie eine Spiegelung im trüben Wasser.
Sie war vor jemandem geflohen. In ihrer Erinnerung blitzte das Gesicht des Ritters auf: sein goldenes Haar, die kühn geschnittenen Züge, die blauen, argwöhnisch spähenden Augen. Ja, mit diesen durchdringenden Augen hatte er sie entdeckt, und ihr war es so vorgekommen, als habe er die Hand nach ihr ausgestreckt. Ihr Versteck war entdeckt worden, und nicht weit von dem Wohnturm, der verlassen in der trostlosen Landschaft dastand, wäre sie beinahe gefangen worden.
Nein, nicht verlassen … niedergemacht hatte man ihn, wisperte ihr die Erinnerung zu, die in ihr hochstieg. Und mit ihr kamen die Bilder des Grauens.
Flammen und Blut.
Schreie.
Das Wimmern eines Kindes in den Armen seiner Mutter.
Mit einem Stöhnen kniff sie die Augen zu und drängte die hässlichen Bilder beiseite. Sie ergaben ohnehin nicht viel Sinn, waren sie doch nicht mehr als eine verwirrende Ansammlung von bösen Eindrücken, die ihr im Kopf herumgeisterten. Selbst im wachen Zustand durfte sie ihrer Wahrnehmung nicht mehr trauen. Tage und schwarze Nächte flossen ineinander, Nächte wurden plötzlich zu helllichten Tagen; sie vermochte die Tageszeiten nicht mehr scharf voneinander zu trennen. Es fiel ihr zunehmend schwer, wach zu bleiben und die Umgebung richtig wahrzunehmen, obwohl ihre Augen noch offen waren.
Dieser Schmerz.
Das war alles, was sie wirklich empfand. Die quälenden Schmerzen ließen nicht nach; ein Feuer schien sich in ihr auszubreiten, fraß sich gleichsam durch ihren Leib und beraubte sie langsam ihres Willens und ihrer Sinne.
Die Luft um sie herum war kalt, und doch brannte ihr Leib, als stünde sie in Flammen. Hitze versengte sie von innen her, aber kein Schweiß kühlte ihr die Stirn. Und sie war so furchtbar durstig. Ihr Mund fühlte sich wie ausgetrocknet an, ihre Zunge war geschwollen und schwer.
Mühsam kämpfte sie dagegen an, wieder in das Reich der Schatten abzugleiten, und drückte sich mit den Armen vom Boden ab. Ihre Glieder zitterten, als sie ihren schlanken Körper in eine sitzende Stellung brachte. Selbst diese kleine Bewegung hatte sie außer Atem gebracht, in ihren Schläfen rauschte das Blut.
Über ihr glänzten die frischen Blätter der Eichen und Eschen im Sternenlicht. Sie raschelten leise in der nächtlichen Brise, waren eben erst den Knospen des Winterschlummers entwachsen. Tropfen des letzten Regenschauers hingen an dem leicht gebogenen Blattwerk. Unter Aufbietung ihrer letzten Kräfte gelang es ihr schließlich, langsam aufzustehen. Gierig streckte sie die Hand nach den glitzernden Wassertropfen aus. Einem wilden Tier des Waldes gleich sog sie das kühlende Nass von den Blättern. Doch es war nicht genug.
Nicht einmal annähernd genug, um den quälenden Durst zu löschen.
Sie musste eine Wasserstelle finden. Musste das Feuer löschen, das in ihr wütete. Den rauen Atem zwischen den ausgetrockneten Lippen ausstoßend, drehte sie den Kopf und schaute auf die offene Ebene hinaus, die sich vor ihren müden Augen erstreckte. Etwas zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Reglos blieb sie stehen, spähte in die Dunkelheit und lauschte.
Der Wind rauschte in den Wipfeln, aber das Rascheln der Zweige und der hohen Gräser wurde noch von einem anderen Geräusch überlagert.
Wasser.
Große, rauschende Wogen, nicht weit von ihr entfernt.
Matt und erschöpft machte sie ein paar Schritte und blickte in die Richtung, aus der sie die willkommenen Geräusche des Wassers vernahm. Da
Weitere Kostenlose Bücher