Der Kelch von Anavrin: Das magische Siegel (German Edition)
Aufmerksamkeit auf den böig auffrischenden Wind und die Stille jenseits der Burgmauern. Dann schloss sie die Augen und hielt ihr Gesicht in den frischen Wind, der ihre Wangen kühlte.
Einem Schleier gleich umfing sie die Ruhe und verdrängte den inneren Aufruhr.
Doch mit einem Mal nahm sie noch etwas anderes wahr.
Etwas Beunruhigendes und Aufdringliches.
Etwas Bedrohliches.
Geräuschvoll sog Haven die Luft ein und riss die Augen auf.
Zwar konnte sie nichts entdecken, was ihre plötzliche innere Unruhe hätte rechtfertigen können, doch sie wurde das eigenartige Gefühl nicht los, das sich ihrer so unvermutet bemächtigt hatte. Sie richtete ihre Gedanken nach draußen, suchte nach der Ursache für ihre Furcht. Doch sie hörte nichts, sah nichts. Aber da war etwas …
Einer eisigen Hand gleich, die sich auf ihren Nacken legte, durchschoss sie ein wachsendes Unbehagen. Was auch immer dort draußen lauerte, es hatte sie erspäht. Jagte sie, dessen war sie sich sicher.
Unwillkürlich wich Haven vom Fenster zurück.
Nein!, dachte sie und schalt sich im Stillen für ihr feiges Zurückweichen. Wenn es wirklich einen Grund gab, sich Sorgen zu machen, wenn dort außerhalb oder innerhalb der Burgmauern eine Gefahr lauerte, so musste sie Gewissheit haben.
Mit diesem neuen Vorsatz wagte sich Haven erneut an das Fenster und blickte in die schwarze Nacht hinaus. Sie stand sicher, spähte in die nächtliche Landschaft und hinüber zum Waldrand, dessen Umrisse sich jenseits der westlichen Mauern in der Nacht verloren.
Nein, dort war nichts.
Das Gefühl einer bösen Vorahnung nahm ab, das warnende Prickeln, einer plötzlichen Gefahr ausgesetzt zu sein, war schon von ihr abgefallen.
Und dennoch hätte sie schwören können, dass irgendwo dort draußen in der Dunkelheit Unheil drohte … und der Burg näher war, als sie wahrhaben wollte.
17
Nebelschwaden durchzogen den hinteren Burghof. Kenrick schwang sein Schwert über dem Kopf und ließ es mit einem wuchtigen Hieb auf das Ziel niedersausen.
Der harte Aufprall, der in der frühmorgendlichen Stille nachhallte, zeugte von dem Treffer. Es war ein tödlicher Schlag gewesen, und die Klinge fuhr tief in den gepanzerten Torso des reglosen Gegners. Holzsplitter flogen aus der Übungsfigur, als Kenrick erneut einen Treffer landete; der mit einem Helm bewehrte Kopf der Puppe hüpfte auf der Pike, die ihn stützte.
Kenrick fasste die Schwachstelle mit einem grimmigen Lächeln, das kein Erbarmen kannte, ins Auge. Mit einem Aufschrei machte er seinem aufgestauten Zorn Luft und holte zu einem alles entscheidenden Hieb aus. Die Wucht des Schlages beförderte den zerbeulten Helm zu Boden; mit blechernen Geräuschen rollte er über den sanft abfallenden Burghof.
Der Ritter, der an der Rückseite des Burgfrieds Wache hielt, war der einzige Zeuge dieser frühen Schwertübung. Er begrüßte den Burgherrn mit einem Nicken und verließ dann kurz seinen Posten, um Kenrick zu Diensten zu sein. Während der Ritter loslief, um den Helm wiederzuholen, nahm Kenrick die Ringelkapuze vom Kopf und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Für die spontane Übung im Freien hatte er sich eine leichte Rüstung angelegt, und die kunstvoll geschmiedeten Glieder des Kettenhemdes, die sich bis über die Arme zogen, erschwerten die Kampfübungen noch. Doch Kenrick genoss das Brennen seiner beanspruchten Muskeln. Es fühlte sich gut an, waren die Schmerzen doch eine willkommene Ablenkung von gänzlich anders gearteten Qualen, die ihn seit der vorzeitig abgebrochenen Verführung seines Gastes heimgesucht hatten.
»Ich möchte behaupten, dass dieser Bursche schon bessere Tage gesehen hat«, sagte der Wächter, als er den Helm wieder auf die Pike pflanzte. »Ihr seid sehr geschickt mit der Klinge, Mylord.«
»Habt Dank«, erwiderte Kenrick, doch das Lob nahm er eher widerwillig entgegen, wusste er doch, dass jeder der Männer in seinen Diensten gelobt hatte, den Burgherrn mit dem Leben zu schützen. »Ihr seid Sir Thomas, habe ich recht?«
Der Ritter hielt inne und nickte Kenrick dann ehrerbietig zu. »Aye, Mylord. Das ist mein Name.«
»Ihr habt eine kleine Tochter – Gwen, nicht wahr?«, fuhr Kenrick fort, denn er erinnerte sich an das, was ihm Haven vor einigen Tagen erzählt hatte.
»Aye, Mylord. Sie ist meine Älteste.« Sir Thomas’ Züge zeigten nun einen Ausdruck von Besorgnis, wenn nicht gar leise Furcht. Ganz so, als drohe ihm und seiner Familie der Zorn des unberechenbaren Burgherrn.
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