Der Kelch von Anavrin: Geheimnisvolle Gabe (German Edition)
erfahren, dass ich hier bin. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?«
Mit seinem strengen Blick schien er sie durchbohren zu wollen. Eingeschüchtert nickte Serena und war nicht in der Lage, den Blick von den Augen des Fremden zu wenden, in denen eine unverhohlene Drohung lag.
»Gut«, sagte er dann, offenbar zufrieden. Dabei verriet sein Tonfall, dass er ohnehin nicht mit Widerworten gerechnet hatte. Mit düsterer Miene betrachtete er die hässlichen Risswunden auf seinen bloßen Armen, und ein Ausdruck großen Unmuts schlich sich in seinen Blick. »Während ich gleich etwas esse, möchte ich, dass du eine Schüssel mit Wasser holst, und außerdem ein Tuch, um diese Wunden zu säubern.«
Angesichts der deutlichen Anweisung, dass sie ihm helfen sollte – und dadurch gezwungen wäre, ihn erneut zu berühren – , warf Serena einen ängstlichen Blick auf ihre Mutter. Calandra, die gerade im Begriff war, einen kleinen schwarzen Kessel mit einem Schmorgericht darin zur offenen Feuerstelle zu tragen, hielt inne.
» Ich werde mich um Eure Verletzungen kümmern«, bot sie an und deutete mit einem Kopfnicken auf den Kessel. »Serena, komm und sieh nach dem Essen.«
Der Blick des Fremden ruhte noch auf ihr, als Serena ihn wieder zaghaft ansah. Im trüben Licht der Hütte hatten seine Augen eine grünliche Färbung angenommen. Schweigend beobachtete er sie, wie sie ihr Kissen auf einen Schemel legte und sich dann von ihm entfernte.
Ein strenger Zug lag um seinen Mund. Ärgerte es ihn, dass sie sich der Aufforderung widersetzte, sich um seine Wunden zu kümmern? Oder erfüllte es ihn mit Argwohn, dass sie so eifrig darauf bedacht war, seine Nähe zu meiden?
Doch Serena hielt sich mit derlei Fragen nicht weiter auf und war erleichtert, den Mann nicht erneut berühren zu müssen. Rasch war sie beim Herdfeuer und nahm sich des Schmorgerichts an. Calandra sah mit grimmiger Miene zu, wie sich ihre Tochter die Handschuhe überstreifte und nach dem langen Löffel griff. Mit einem reumütigen Blick deutete Serena an, wie leid es ihr tat, dass der Fremde durch ihr unbedachtes Handeln in die Hütte gekommen war. Die Züge ihrer Mutter glätteten sich wieder, doch zurück blieb ein Ausdruck von Resignation.
»Ich hole Wasser für die Schüssel. Bin gleich zurück«, sagte Calandra in aufmunterndem Ton, auch wenn ihr Blick wenig Zuversicht verriet.
Serena nickte. Sie rührte den sich langsam erwärmenden Eintopf mit dem Löffel um und hörte, wie ihre Mutter die Hütte verließ. Die Tür fiel hinter ihr zu, und Serena war mit dem unliebsamen Gast allein.
Wie sehr sie sich wünschte, den Fremden niemals gefunden zu haben! Schon sehnte sie sich wieder nach der friedlichen Ruhe, die sie beim Erwachen am Morgen verspürt hatte, ehe sie den von Zorn erfüllten Fremden unten am Strand vorgefunden hatte. Und sie bedauerte es, ihn berührt zu haben, denn nach wie vor erbebte sie innerlich vor diesem fürchterlichen Zorn, der von seinem Körper auf ihre Hände übergesprungen war.
Doch all dies konnte sie nicht mehr ungeschehen machen.
Und solange ungewiss war, wie viele Tage der Fremde bleiben würde, war der Frieden, den sie von klein auf kannte, in eine unbestimmte Ferne gerückt.
Schon fürchtete sie, nie wieder in den Genuss dieser friedlichen Ruhe zu kommen.
»Du und deine Mutter, ihr lebt hier ganz für euch allein, nicht wahr?«
Seine Stimme ließ sie zusammenfahren und erschreckte sie genauso wie die Frage selbst. Für einen Augenblick erwog Serena sogar, dem Fremden vorzugaukeln, es gäbe noch einen Vater und sechs kräftige Brüder, die allesamt in Kürze zur Waldhütte zurückkehren würden. Aber ihre Lüge wäre leicht zu durchschauen gewesen. Dieser Mann würde ihr keinen Glauben schenken. Ohnehin schien er die Antwort zu wissen, ehe sie etwas sagte.
»Ja«, erwiderte sie und schaute angestrengt in den Kessel. »Hier leben nur ich und meine Mutter.«
»Wie lange schon?«
Serena zuckte die Schultern und rührte das dickflüssige Schmorgericht um. »Schon immer. Zumindest so lange, wie ich mich erinnern kann. Ich hatte Bruder und Schwester, aber beide starben, als ich klein war. Ich habe sie nicht gekannt, auch nicht meinen Vater. Bald nach meiner Geburt ging er fort.«
Schweigen beherrschte die Hütte, eine drückende Stille, die Serena stärker beunruhigte als die tiefe Stimme des Fremden. »Das muss schwer sein«, sagte er schließlich, »wenn zwei Frauen ganz allein auf sich gestellt sind.«
»Wir kommen
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