Der Kelch von Anavrin: Geheimnisvolle Gabe (German Edition)
einer ganz anderen Welt zu entstammen schien. Einer Welt, die Serena nicht verstehen wollte, da sie die Wunden mit den frischen Blutspuren sah, die den Körper und die Arme des Fremden entstellten.
Sein dunkles Haar hatte am Morgen durch die Feuchtigkeit schwarz ausgesehen, ebenso in der Nacht, als nur das Mondlicht auf die Züge des Mannes gefallen war. Jetzt indes, im Schein des prasselnden Feuers, erkannte sie, dass der Fremde kastanienbraunes Haar hatte, das ihm wirr bis auf die Schultern fiel. Der Bart, die dunkel umschatteten Augen und die aufgrund der Entbehrungen leicht eingefallenen Wangen verliehen seiner Erscheinung etwas Wildes.
Und diese haselnussbraunen Augen … sie erinnerten an den scharfen Blick eines Raubvogels, mit dem der Fremde die Beschaffenheit der Hütte musterte.
Er war eine große und gebieterische Erscheinung, ein beunruhigender Eindringling, kraftvoll und mächtig, von dem Gefahr ausging.
Serena vermochte den Blick noch immer nicht von ihm zu wenden.
Teilweise aus Angst, teilweise aus Neugier wanderte ihr vorsichtiger Blick immer und immer wieder zu dem Mann hinüber, der in der engen Hütte auf und ab ging – wie ein herrschsüchtiger Eroberer, der sich einen ersten Eindruck von der dürftigen Beute seines neu gewonnenen Gebiets verschafft.
Ihre Hände zitterten noch von der Berührung. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie nach wie vor den unermesslichen Zorn spüren, der in diesem Mann wütete. Dieser Zorn war auf sie übergegangen, brach sich wie ein Nachhall tief in ihrem Innern und pulste durch ihre Adern. Ihre Gabe, in andere Menschen hineinsehen zu können, – die Ahnung – hatte ihr die unbeschreibliche Leere in seinem Herzen offenbart, den unstillbaren Rachedurst. Zwar hatte sie ihn nur für einen kurzen Moment berührt, dabei aber hatte sie tief in seine Seele geschaut, als habe er laut und vernehmlich über sein Sinnen und Trachten gesprochen.
Ihm stand der Sinn nach Mord.
Er war von Gewalt beherrscht, und wehe dem, der es wagte, sich ihm in den Weg zu stellen.
Der Gedanke verfolgte sie und ließ sie auch dann nicht los, als sie sich einer Kleidertruhe neben ihrer Bettstatt zuwandte, um das letzte Paar Handschuhe zu holen. Sie kniete vor der einfachen Kiste, nahm die Handschuhe heraus und freute sich schon auf das ihr vertraute weiche Leder, auch wenn es nur ein kleiner Trost war.
Doch ehe sie sich die braunen Handschuhe überstreifen konnte, hörte sie, wie der Fremde sich ihr auf dem festgestampften Boden näherte.
»Wessen Lager ist das dort unterhalb des Fensters?«
Seine tiefe Stimme erfüllte die Hütte wie ein plötzliches Donnergrollen, obwohl er nicht laut gesprochen hatte. Serena fuhr herum und stand rasch auf, um sich den Fragen des Fremden zu stellen. Mit den Augen deutete er auf die bescheidene Bettstatt, auf der Kissen und Decke unordentlich lagen. Genau so hatte Serena ihr Lager in der Nacht verlassen, um nachzusehen, wie es dem Fremden ergangen war.
»Das ist meins«, antwortete sie und wich ein wenig zur Seite, als der Mann zu ihr trat.
Er stieß einen Laut des Unmuts aus und blickte sie nur kurz an. Dann beugte er sich hinab, hob das dünne, mit Federn gefüllte Kissen auf und drückte es ihr in die Arme, ehe sie reagieren konnte. »Das wird genügen«, ließ er sie wissen. »Du bekommst es in ein paar Tagen zurück, wenn ich fort bin.«
»In ein paar Tagen?«
Die Frage war ihr über die Lippen gekommen, ehe sie recht darüber nachdenken konnte. Auf der anderen Seite des einzigen Raums räusperte sich ihre Mutter; eine leise Warnung, den Zorn des Fremden nicht heraufzubeschwören. Serena begriff, wie wichtig es war, die Forderungen des Mannes zu erfüllen, zumindest im Augenblick. Aber dadurch fiel es ihr auch nicht leichter, die Situation hinzunehmen. Mit gerunzelter Stirn blickte sie auf das Kissen, das sie in Händen hielt.
Er hatte von ein paar Tagen gesprochen. Hatte er wirklich vor, ihr Zuhause so lange in Beschlag zu nehmen?
Was auch immer seine Absicht sein mochte, weder eine Erklärung noch eine Entschuldigung kam über seine Lippen. Stattdessen wandte er sich Serena mit einer hochgezogenen Braue zu; er stand so dicht vor ihr, dass sie das Gefühl hatte, von seiner großen Gestalt erdrückt zu werden. Da sie sich nicht anders zu helfen wusste, klammerte sie sich an das Kissen und drückte es wie ein Schutzpolster gegen ihren Leib.
»Ich werde so lange auf diesem Lager ruhen, wie ich es für nötig erachte. Niemand darf
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