Der Kelch von Anavrin: Geheimnisvolle Gabe (German Edition)
behielten die Menschen unten am Hafen im Auge und suchten nach einem ganz bestimmten Mann: Greycliff, mit den Teilstücken des Drachenkelchs. Draec war unruhig und ungeduldig, aber das lag nicht nur an seinem Schlafmangel. Er stand seinem Auftrag mit wachsender Ablehnung gegenüber. Wieder war ein Boot angekommen, und während die Reisenden ausstiegen, bedeutete Draec seinem Gefährten, ihm zu folgen.
Doch der Gestaltwandler, der die ganze Zeit neben ihm gestanden hatte, rührte sich nicht. Dann hob er ruckartig den großen Kopf. Die Nasenflügel flirrten, als er sich vom Hafen abwandte und tief die Luft einsog, die von der Stadt herüberwehte.
»Was ist?«, fragte Draec missmutig.
Der rauen Stimme des Gestaltwandlers war das erwachte Jagdfieber anzumerken. »Das Gold des Kelchs.« Wieder schnupperte er wie ein Raubtier und wandte sich schließlich mit einem Glimmen in den Augen zu Draec um. »Ein Teil des Schatzes ist ganz in der Nähe. Irgendwo dort oben.«
»Natürlich«, meinte Draec und machte keinen Hehl aus der Verachtung, die er für die Abgesandten Anavrins übrig hatte. »Gewiss hat de Mortaine Avosaar mitgebracht. Im Augenblick tut er sich an den Speisen gütlich, die der Baron seinen Gästen auftischt. Ich kann den Kelch beinahe selbst riechen, auch ohne die magischen Fähigkeiten eines Gestaltwandlers.«
Der Wächter mit dem zotteligen Haar schüttelte den Kopf. »Der Geruch ist stärker als der von Avosaar. Es muss mehr als nur ein Gefäß des Drachenkelchs hier in der Stadt sein«, sagte er und runzelte die breite Stirn. »Das Gefäß, das ich wahrnehme, birgt zwei Kelchsteine. Jemand hat es bei sich.«
Demnach ist es Greycliff und seinem Freund also tatsächlich gelungen, einen weiteren Teil des großen Kelchs aufzustöbern, dachte Draec. In seinen Gedanken schweifte er zu jener Nacht vor einigen Wochen zurück, als eine verführerische Frau mit flammend rotem Haar, in deren Adern ebenfalls anavrinisches Blut geflossen war, ihn betäubt hatte, um ihrem sterblichen Geliebten Kenrick of Clairmont zu helfen. Haven hatte ihre Täuschung mit großem Geschick eingefädelt; ganz trunken von den Kräutern und seiner eigenen Selbstüberschätzung, hatte Draec der kühnen Frau das Siegel überlassen müssen, mit dessen Hilfe Clairmont und Greycliff den verborgenen Schatz in Glastonbury gefunden hatten.
Aber ein solcher Fehler würde ihm nicht erneut unterlaufen. Er würde sich in Geduld fassen und auf die passende Gelegenheit warten. Zu viel hatte er schon riskiert, um jetzt noch zu versagen. Bald würde der Drachenkelch ihm gehören, bei Gott. Er würde ihn für sich allein beanspruchen, koste es, was es wolle. Den Tod fürchtete er nicht.
Draec drehte sich langsam um und warf einen Blick auf die volle Straße, die von dem kleinen Hafen zum Marktplatz von Egremont führte. Irgendwo in der Menge der Reisenden und Bewohner hatte Randwulf of Greycliff die Hälfte des Drachenkelchs bei sich. Wenn es Draec gelänge, in den Besitz dieser Machtfülle zu kommen, wäre er in der Lage, einem Gegner wie de Mortaine standzuhalten und auch noch Avosaar an sich zu bringen. Hätte er drei von vier Gefäßen, könnte ihn niemand mehr daran hindern, auch den letzten magischen Stein zu gewinnen.
Nie war er seinem Ziel näher gewesen.
»Führ mich zu den Kelchsteinen, die du witterst«, befahl er dem Gestaltwandler.
Der gedungene Scherge setzte ein raubtierartiges Grinsen auf, ehe er in Richtung Marktplatz eilte. Siegessicher folgte ihm Draec.
26
Auf der Empore lehnte sich Silas de Mortaine gelangweilt in seinem Lehnstuhl zurück und tat so, als interessiere ihn das belanglose Geschwätz seines Gastgebers. Baron de Moulton prahlte mit den guten Ernteerträgen, die ihm seine Ländereien dieses Jahr einbringen würden, und erzählte weitschweifig von der vorteilhaften Vermählung, die er vor Kurzem für seine zweitälteste Tochter arrangiert hatte. Das Festbankett an diesem Tag sollte die Verlobungsfeier sein, und da die Heirat zwei bedeutende Häuser miteinander verband, waren zahlreiche Gäste in die Große Halle der Burg von Egremont gekommen. Obwohl er für gewöhnlich gern unterwegs war, fühlte sich Silas von dem langen Ritt in Richtung Norden erschöpft und hatte daher der Aussicht auf ein edles Bett und ein prächtiges Festmahl nicht widerstehen können. Leider waren diese Annehmlichkeiten nur zum Preis furchtbarer Langeweile zu erhalten.
»Ah, da kommt ja meine liebe Sybilla.« Mit dem erhobenen Weinkelch
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