Der Kelch von Anavrin: Geheimnisvolle Gabe (German Edition)
Boshaftigkeit und Zerstörung gesehen hatten.
Endlich fand Serena die Kraft, sich zu rühren. Langsam beugte sie sich hinab und hob den hellen Lederhandschuh auf. Das dunkle Haar fiel ihr ins Gesicht und schützte sie vor den Blicken der beiden Männer. Ihr war es nur recht, denn sie konnte nicht ertragen, dem weiß gewandeten Herrn in die Augen zu schauen. Sie zitterte am ganzen Leib.
Der Wirt allerdings deutete ihre Furcht als Ehrerbietung und schnalzte zufrieden mit der Zunge. »Schon besser, törichte Gans. Ich muss mich bei Euch für die Unannehmlichkeiten vor meinem Haus entschuldigen, Lord de Mortaine.«
»Mir wäre es lieber, du würdest jetzt wieder zurück an die Arbeit gehen«, grollte der Mann, der so viele Menschenleben auf dem Gewissen hatte.
Dann streckte er Serena erwartungsvoll eine elegante Hand entgegen.
Unter Aufbietung ihres ganzen Mutes reichte Serena ihm den weichen Lederhandschuh und ließ es bewusst darauf ankommen, dass ihre Finger die seinen für einen kurzen Augenblick berührten. Flammen, so heiß wie das Fegefeuer selbst, züngelten dort über ihre Haut, wo de Mortaines Fingerkuppen sie streiften. Serena hielt den Schmerz aus, und die Ahnung gewährte ihr einen Blick in das schwarze, abgrundtief böse Herz, das in dem alterslosen Körper dieses Mannes schlug. Durch das dunkle Gewirr aus Boshaftigkeit und Niedertracht strömten de Mortaines Gedanken in Serenas Kopf: … schöner Mund, könnte mir Vergnügen verschaffen … merkwürdig, hab ich sie schon mal irgendwo gesehen, vor hundert Jahren … kommt mir bekannt vor … aber was halt ich mich damit auf – einer meiner Männer soll sie heute Abend zu mir bringen … werd diese ganze Stadt besitzen, sowie ich den Kelch hab … bald schon, sehr bald … nun sieh mich an, mein kleines Täubchen – lass den Herrn sehen, wie du aussiehst …
Serena zog ihre Hand rasch zurück und verbarg sie unter dem Umhang. Ihre Finger brannten, der Schmerz breitete sich in ihrem Arm aus. Sie spürte, wie die Verderbtheit dieses Mannes auf sie überging, sich schwarzen Nattern gleich durch ihre Sinne schlängelte und ihr Blut vergiftete.
Silas de Mortaine war ihr Blutsverwandter, wie sie sich mit Schrecken vor Augen führte. Übelkeit überkam sie bei der Vorstellung, dass es eine Verbindung zwischen ihr und diesem Ungeheuer gab.
Sie wich einige Schritte zurück, um nicht mehr in Reichweite seiner Hand zu sein. De Mortaine lachte hämisch, als habe er seine Freude an ihrer Furcht. Doch da meldete sich der Wirt wieder zu Wort und schwatzte von dem großen Fest, das Silas an der Tafel des Barons de Moulton erwarte. Diesen Augenblick nutzte Serena, um in die Menschenmenge zu entkommen.
Jetzt dankte sie dem Himmel, in dem Gewühl verschwinden zu können. Verzweifelt versuchte sie, das Entsetzen zu verdrängen, das sie bei de Mortaines Berührung erfasst hatte. Und während sie sich von der Menge aufnehmen ließ, begriff sie, dass sie Rand am besten würde helfen können, indem sie Silas de Mortaine so lange wie möglich in Egremont aufhielt. Dadurch könnte es Rand gelingen, nach Schottland zu fliehen, um endlich das letzte Gefäß des Drachenkelchs zu finden.
Die Dämonen, die Draec le Nantres heimsuchten, gaben sich nicht mehr damit zufrieden, den Ritter nur in seinen Träumen zu plagen. Immer öfter litt er nun auch tagsüber unter albtraumartigen Trugbildern: Er gewahrte eine Feuersbrunst, unterlegt von Donnergrollen, sah fauchende Drachen, geschmolzenes Gestein und glaubte, in eine schwarze Tiefe zu stürzen.
Während seines ganzen Lebens hatte Draec le Nantres Bilder seines eigenen Todes vor Augen gehabt.
Nun konnte er den Schwefelgeruch auch während des Tages wahrnehmen. Er spürte, wie sich die Zähne des Tiers in sein Fleisch bohrten, Feuer verzehrte seine Haut und versengte sein Haar. Er sah, wie er in die heiße, von Rauch erfüllte Leere hinabfiel …
Tiefer hinab, noch tiefer und immer tiefer fiel er …
Mit einem Fluch schüttelte er die hässlichen Bilder ab und richtete sein Augenmerk wieder auf seine unmittelbare Umgebung. Auf den Docks unterhalb von Egremont herrschte geschäftiges Treiben. Lastkähne mit Lebensmitteln erreichten den kleinen Hafen, Reisende verließen die Boote, die an dem Landungssteg festmachten. Grund der ganzen Betriebsamkeit war das große Festbankett, das an diesem Tag in der Burg stattfand, die sich hoch über der Stadt erhob.
Draec und der Gestaltwandler, den er zur Unterstützung mitgenommen hatte,
Weitere Kostenlose Bücher