Der Kelch von Anavrin: Geheimnisvolle Gabe (German Edition)
unter einem Zwang musste Silas sich von seinem Stuhl erheben, um besser sehen zu können.
»Stimmt etwas nicht, Mylord?«, fragte der Gastgeber und schaute von seinem Platz auf.
»Diese Frau dort«, murmelte Silas, »bei der Tür … wer ist das?«
Baron de Moulton gab einen grunzenden Laut von sich und wirkte ratlos. »Das wird eine Freundin von Sybilla sein, nehme ich an. Vielleicht auch eine entfernte Cousine. Wir haben so viele Gäste zu der Verlobungsfeier eingeladen. Ich kann nicht genau … «
»Und ich sage Euch, dass ich in einer dringenden Angelegenheit mit Eurem Herrn sprechen muss«, ließ sich nun die klare, feste Stimme der jungen Frau vernehmen. »In der Stadt hält sich ein Mann auf, der eine große Gefahr für uns alle darstellt. Er heißt Silas de Mortaine.«
Baron de Moulton ließ den Weinkelch sinken und warf einen fragenden Blick auf seinen hohen Gast. Silas war bei den kühnen Worten der Frau verstummt, aber dann deutete sich ein Lächeln um seine Mundwinkel an, eher aus Neugier als aus Besorgnis. Er tat den verunsicherten Blick seines Gastgebers mit einem nachlässigen Schulterzucken ab und nahm wieder an der Tafel Platz.
»Das verspricht, erheiternd zu werden«, sagte er und nahm eine entspannte Haltung in seinem Lehnstuhl ein. »Ich bitte Euch, lasst die Dame vortreten, Mylord. Wie alle anderen im Saal bin auch ich gespannt, was sie zu dieser großen Gefahr zu sagen hat, die da angeblich von mir ausgeht.«
Mit einem Grinsen unter Standesgenossen bedeutete de Moulton den Torwachen, der Frau Einlass zu gewähren. Silas schwenkte den Kelch leicht in der Hand, sodass der blutrote Wein einen kleinen Strudel bildete, während zwei bewaffnete Wachen die fremde Frau, die solche Anschuldigungen gegen ihn erhob, durch die Menge der Gäste eskortierten. Selbst in ihrem schlichten Umhang hob sich die Unbekannte von der Schar edel gewandeter Landadliger noch wie eine schillernde dunkle Perle ab. Silas’ anfängliche Neugier wandelte sich zu lustvollem Begehren.
Ein Anflug von Erstaunen durchrieselte ihn, als sich die Frau der Hochtafel näherte.
Es war niemand anders als die ungeschickte junge Dame mit den samtenen Rosenlippen, die ihn vor der Schenke angerempelt hatte. Vor einigen Stunden hatte sie noch schüchtern gewirkt, jetzt allerdings sprach Kühnheit aus jeder ihrer Bewegungen. Er fragte sich, ob er sie in irgendeiner Weise beleidigt haben mochte, und war wie gebannt von ihrem ernsten Auftreten. Das dunkle Täubchen schien die Hartnäckigkeit eines Habichts zu besitzen, da es sich erdreistete, die Festlichkeit zu unterbrechen.
»Ich bin Silas de Mortaine«, begann er mit lauter, gebieterischer Stimme, die noch hoch oben an den Deckenbalken nachhallte. Es erfüllte ihn mit dunkler Freude, als er sah, wie die junge Frau unter dem Eindruck seines Namens leicht zusammenzuckte. Die Wachen bedeuteten ihr, an der Empore stehen zu bleiben. »Nun, meine Dame, alle hören Euch zu. Was ist Euer Begehr?«
Sie befeuchtete die Lippen und schaute voller Unruhe von einem bewaffneten Wächter zum anderen. Sämtliche Gespräche waren verstummt. Die Musiker auf der Galerie reckten neugierig die Hälse, während sich die Gäste verunsichert ansahen und langsam zur Empore drängten. Sybilla unterdrückte hinter ihrem feinen Tuch aus Leinen und Spitze ein Schluchzen, enttäuscht über die verpatzte Feier.
Drückendes Schweigen senkte sich herab.
»Sprecht!«, bellte Silas nun ungehalten, denn Geduld hatte nie zu seinen Eigenschaften gezählt. De Moultons Tochter verfiel nun in ein anhaltendes Schluchzen.
Die junge Frau hob den Blick und sah Silas in die Augen, auch wenn jedermann spürte, dass Furcht in ihr Herz eingezogen war. Für diesen Mut brachte ihr Silas ein gewisses Maß an Anerkennung entgegen. Nachsicht würde er dagegen nicht mit ihr haben.
»Dieser Mann ist böse«, begann sie und wandte sich mit ihren Worten an den Baron. »Auf sein Geheiß wurde eine Familie ermordet in einer Burg namens Greycliff … «
Bei diesem Namen horchte Silas sogleich auf und beugte sich leicht vor.
»Vor zwei Monaten fanden eine Frau und ihr kleiner Sohn im Burgfried von Greycliff Castle den Tod. Dieser Mann, der an Eurer Seite sitzt, entsandte eine Schar Dämonen, die den Wohnsitz niederbrennen und keine Seele am Leben lassen sollten.«
»Dämonen, sagt Ihr?« De Moultons Frage hatte einen zweifelnden Unterton. »Wie meint Ihr das, werte Frau?«
»Seht Ihr denn nicht, dass sie krank im Geiste ist?«, warf
Weitere Kostenlose Bücher