Der Kelch von Anavrin: Geheimnisvolle Gabe (German Edition)
Schultern.
… lassen mich nie mitmachen … ich kann schon mitspielen, wünschte, ich wär größer, wie Peter … eines Tages werd ich ihnen zeigen, was ich kann … muss sie einholen …
Sofort lief die Ahnung durch sie hindurch, und sämtliche Gedanken des Jungen strömten durch ihren Kopf, während er sie verwundert und mit großen braunen Augen ansah. Serena wich erschrocken zurück. In ihrer Eile hatte sie zu Hause ihre Handschuhe vergessen. Augenblicklich ließ sie von dem Jungen ab, zog ihre bloßen Hände eng an den Leib und vergrub sie in den Falten des Umhangs.
»Peter! Kip! Wartet auf mich!«
Der Bursche rannte ohne ein Wort der Entschuldigung davon, während sich Serena die kribbelnden Hände rieb und ihm nachsah, wie er in der Menschenmenge verschwand. Sie selbst schloss sich ebenfalls den Leuten an, die durch die Straßen strömten, und fühlte sich unsicher.
Wie sollte sie Rand in diesem Gedränge finden? Er könnte überall sein. In der Menge, in der Nähe der Docks oder bereits auf einem Schiff, das in Richtung Schottland fuhr. Sie brauchte Gewissheit. Sie musste ihn finden, und das bedeutete, dass sie sich einen Weg durch die Menge bahnen sollte, wie sie sich mit Unbehagen klarmachte. Sie hatte keine Zeit zu verlieren.
Mit neuer Entschlossenheit begab sich Serena in die Mitte des Marktplatzes. Obwohl sie ihre Hände dicht am Körper hielt, konnte sie nicht verhindern, dass sie hin und wieder mit den Leuten zusammenstieß, an denen sie vorbeimusste. Hier stieß sie jemand an, dort streifte sie jemanden; immer wieder berührten ihre Finger fremde Menschen, und die Ahnung wisperte von Geheimnissen und alltäglichen Begebenheiten.
Eine junge Frau schaute lächelnd zu einem freundlichen Mann auf: Er ahnt nichts, unmöglich … ich bin so vorsichtig gewesen, und er liebt seinen Bruder zu sehr, um dahinterzukommen …
Ein Bediensteter stand neben einem der edlen Wagen: Hätte die südliche Straße nehmen sollen, wäre dann nicht schon vor Stunden angekommen … kann nicht mehr auf den Beinen stehen, gebe Gott, dass man mir ein Lager für die Nacht gibt und nicht bloß den harten Fußboden …
Eine wohlhabende Dame, der der Schweiß schon den Nacken hinunterlief, fächelte sich mit ihrer juwelenbesetzten Hand Luft zu: Was für eine Menge … bin ja froh, dass ich das lavendelfarbene Seidengewand angezogen habe … frage mich, ob es heute Abend Pfau oder Schwan zur Abendmahlzeit gibt, wenn wir in die Burg gelassen werden … vergehe noch in der Sonne …
Serena keuchte, als sie die Menge hinter sich ließ. Die Stimmen hallten in ihrem Kopf nach, ein Gewirr unzusammenhängender Gedanken. Sie war gerade im Begriff, sich an einer Gruppe Reisender vorbeizudrängen, als jemand aus der Schenke trat und ihr den Weg versperrte.
»Ganz im Vertrauen, der Baron de Moulton wird hocherfreut – nein, geehrt – sein, jemanden an seiner Tafel zu haben, der ein so hohes Ansehen genießt wie Ihr, Mylord.«
»Ist dem so?«, ließ sich die glatte Stimme eines anderen Mannes vernehmen, der sich offenbar von keinen Schmeicheleien beeindrucken ließ.
Es war dieser Herr – der Mann, der als Erster die Straße betrat und den der Wirt umschmeichelte – , mit dem Serena gerade zusammenstieß. Da sie den Kopf gesenkt hielt, sah sie zunächst nur die polierten schwarzen Stiefel und den sich bauschenden, mit Verzierungen versehenen weißen Umhang, ehe sie direkt mit dem Mann zusammenprallte.
»Pass auf, wo du hintrittst, ungeschicktes Ding!«, rief der kleine Wirt mit schriller Stimme, als der ganz in Weiß und Gold gewandete Mann beleidigt stehen blieb. »Mylord, Ihr habt einen Eurer Handschuhe verloren. Nun steh nicht einfach nur dumm herum, Mädchen, heb den Handschuh für Lord de Mortaine auf!«
Serena erstarrte. Jede Faser ihres Leibes schien zu Eis zu gefrieren, als sie den Namen des Mannes hörte. Sie wagte nicht, den Blick zu heben und in das böse Gesicht zu schauen. Stattdessen sah sie stumm auf die makellosen Stiefel und den Saum des teuren Umhangs, der in der leichten Brise wehte.
Da sie regungslos stehen blieb und der Aufforderung nicht Folge leistete, nahm die Stimme des Wirts eine noch schrillere Note an. »Beweg dich, Mädchen! Sofort hebst du den Handschuh auf!«
Silas de Mortaine sagte kein Wort. Doch Serena spürte seinen Blick auf sich. Heilige Muttergottes, sie fühlte, wie sich sein kalter Blick tief in ihre Seele senkte, messerscharf, gnadenlos … mit Augen, die bereitwillig so viel
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