Der Ketzerlehrling
ihn. Die Schatulle? Ich nehme an, daß er sie weggeschlossen hat. Fortunata hat sie ihm gestern abend geschenkt. Wenn sie für ein Buch bestimmt ist, hat sie gesagt, dann kann Onkel Jevan sie brauchen – er hat Bücher, ich will sie ihm schenken. Und er benutzt sie für sein kostbarstes Stück, wie sie es wollte. Er wird sie Euch bestimmt gern zeigen.
Es ist ein wundervolles Stück Arbeit.«
»Wenn er nicht da ist, möchte ich Euch nicht weiter stören«, sagte Hugh. »Ich komme später noch einmal vorbei, es ist ja kein weiter Weg.«
Sie verabschiedeten sich, und Hugh begleitete Cadfael bis zum Ende der Wyle. »Sie hat ihm die Schatulle geschenkt«, sagte Hugh verblüfft und stirnrunzelnd. »Was hat das zu bedeuten?«
»Ein Köder«, sagte Cadfael nüchtern. »Jetzt bin ich sicher, daß ihre Gedanken dieselbe Richtung eingeschlagen haben wie die meinen. Aber nicht, um seine Schuld zu beweisen, sondern um sie zu widerlegen, wenn es ihr möglich ist. Und um sich Gewißheit zu verschaffen, um jeden Preis. Er ist ihr naher und geschätzter Verwandter, aber sie ist nicht jemand, der die Augen verschließen und sich einreden kann, daß nie etwas Böses geschehen ist. Aber noch können wir uns beide irren, sie ebenso wie ich. Und im schlimmsten Fall ist sie in der Abtei sicher aufgehoben. Ic h werde gehen und sie dort vorfinden.
Und was den anderen angeht …«
»Den anderen«, sagte Hugh, »könnt Ihr mir überlassen.«
Cadfael durchschritt den Bogen des Torhauses und fand sich plötzlich in einem Durcheinander eifriger Tätigkeit. Wie es schien, war er unmittelbar nach einer wichtigen Persönlichkeit eingetroffen, zu deren Empfang sich die Oberen des Hauses eilfertig versammelten. Der Bruder Pförtner kam mit wehender Kutte, um einen Zügel zu ergreifen, Bruder Jerome machte einem Stallburschen einen weiteren streitig, Prior Robert eilte mit seinen längsten Schritten vom Kreuzgang herbei, Bruder Denis wartete nahebei, nicht sicher, ob der Neuankömmling im Gästehaus untergebracht werden mußte oder ob er beim Abt wohnen würde. Weitere Brüder und Novizen hielten respektvollen Abstand, bereit, jeden Auftrag zu erfüllen, der ihnen vielleicht zuteil wurde, und drei oder vier Schüler, die klug genug waren, sich so weit abseits zu halten, daß sie nicht bemerkt oder getadelt werden konnten, beobachteten mit weit aufgerissenen Augen und gespitzten Ohren die Szene.
Und in der Mitte dieses Gewimmels stand Diakon Serlo, gerade von seinem Maultier abgesessen, und klopfte den Staub aus den Falten seines Habits – rundlich und rotwangig und wohlauf wie immer, und entschieden glücklicher, jetzt, da er seinen Bischof mitgebracht hatte und unbesorgt alle Entscheidungen ihm überlassen konnte.
Bischof Roger de Clinton saß gerade von einem großen Schecken ab, mit der Kraft und Elastizität eines nur halb so alten Mannes. Er mußte, erinnerte sich Cadfael, auf die Sechzig zugehen. Er war seit vierzehn Jahren Bischof und trug seine Autorität wie seine schlichte Reitkleidung mit derselben aristokratischen Selbstsicherheit. Er war hochgewachsen, und seine aufrechte Haltung ließ ihn noch größer erscheinen. Ein gestrenger Mann, einsichtig und ohne eine Spur von Anmaßung, weil er auf sie nicht angewiesen war, denn er hatte, dachte Cadfael, etwas von einem dieser Kriegerbischöfe an sich, die neuerdings sehr selten geworden waren. Sein Gesicht hätte einem Soldaten ebensogut angestanden wie einem Priester, scharf geschnitten, offen und entschlossen, mit durchdringenden grauen Augen, die blitzschnell und mit sicherem Urteil wahrnahmen, was sie sahen. Er erfaßte die Szene um sich herum mit einem Blick und übergab die Zügel seines Pferdes dem Pförtner, als Prior Robert, ganz Ehrerbietung und Willkommen, ihn begrüßte.
Sie begaben sich zusammen zu den Gemächern des Abtes, und die Versammlung löste sich, nachdem sie ihren Mittelpunkt verloren hatte, allmählich auf. Die Pferde wurden von ihren Satteltaschen befreit und zu den Stallungen geführt, die wartenden Brüder widmeten sich wieder ihrer Arbeit, die Kinder verschwanden auf der Suche nach anderen Unterhaltsamkeiten, bis sie zu ihrem frühen Abendessen zu erscheinen hatten. Und Cadfael dachte an Elave, der, wenn auch auf der anderen Seite des Hofes etwas gedämpft, die Geräusche gehört haben mußte, die die Ankunft seines Richters verkündeten. Cadfael war Roger de Clinton bisher nur zweimal begegnet und hatte keine Ahnung, in welcher Stimmung er gekommen war,
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