Der Ketzerlehrling
um sich dieses unseligen Falles anzunehmen. Aber zumindest war er selbst gekommen, und er machte den Eindruck, als wäre er durchaus imstande, die Verantwortung für seine Diözese und ihre spirituelle Gesundheit jedem aus den Händen zu winden, der sich anmaßte, in seinen Amtsbereich einzudringen.
Inzwischen war es Cadfaels vordringlichste Aufgabe, Fortunata zu finden. Er wendete sich an den Pförtner. »Wo könnte ich Girard von Lythwoods Tochter am ehesten finden?
Man sagte mir, sie wäre hier.«
»Ich kenne sie«, sagte der Pförtner. »Aber heute habe ich sie noch nicht gesehen.«
»Sie hat zu Hause gesagt, sie wollte in die Abtei. Kurz nach dem Mittagsmahl, wie mir die Mutter berichtete.«
»Ich habe sie weder gesehen noch gesprochen, und ich war seit Mittag fast die ganze Zeit hier. Ich hatte ein oder zwei Dinge zu erledigen, aber das dauerte jeweils nur ein paar Minuten. Sie mag natürlich hereingekommen sein, während ich ihr den Rücken zukehrte. Aber sie hätte bestimmt mit jemandem sprechen wollen, der etwas zu bestimmen hat, und ich glaube, sie hätte hier am Tor gewartet, bis ich wieder da war.«
Das glaubte Cadfael auch. Aber wenn sie, während sie wartete, den Prior gesehen hatte oder Anselm oder Denis, dann war es durchaus möglich, daß sie einem von ihnen ihre Bitte vorgetragen hatte. Cadfael suchte nach Denis, dessen Pflichten es mit sich brachten, daß er sich die meiste Zeit auf dem Hof und in der Nähe des Tores aufhielt, aber Denis hatte Fortunata nicht gesehen. Sie wußte jetzt, wo sich Anselms kleines Königreich im Kreuzgang befand, vielleicht war sie dorthin gegangen auf der Suche nach jemandem, den sie kannte. Aber Anselm schüttelte den Kopf, nein, bei ihm war sie nicht gewesen. Sie war nicht nur innerhalb der Klostermauern nicht aufzufinden, sondern es hatte den Anschein, als wäre sie an diesem Tag überhaupt nicht hier gewesen.
Als die Glocke zur Vesper ertönte, war Cadfael noch unentschlossen, was er unternehmen sollte, aber sie erinnerte ihn streng an die Verpflichtung, die er aus freien Stücken eingegangen war und deren Vernachlässigung er sich manchmal vorwarf. Es gibt mehr Möglichkeiten, ein Problem anzupacken, als mit kriegerischem Handeln. Auch der Verstand und der Wille haben in dem endlosen Kampf etwas zu sagen.
Cadfael begab sich zum Südportal und schloß sich der Prozession der Brüder in die düstere, kühle Höhle des Chores an und betete inbrünstig für Aldwin, tot und begraben in seiner bemitleidenswerten menschlichen Unvollkommenheit, und für William von Lythwood, zufrieden und von seinen Sünden losgesprochen heimgekehrt, um an dem von ihm erwählten Ort zu ruhen, und für alle diejenigen, die gepeinigt wurden von Argwohn und Zweifeln und Angst, die Schuldigen ebenso wie die Unschuldigen. Ob er nun um ein Buch herum, das es vielleicht überhaupt nicht gab, ein phantastisches Gebäude errichtete oder jeden, der zuviel wußte, in größter Gefahr sah, so war doch ein Verbrechen geschehen, hart und kalt wie ein schwarzer Kristall. Jemand hatte den Schreiber Aldwin um sein harmloses, trauriges Leben gebracht, Aldwin, über den der einzige Mann, dem er je geschadet hatte, ehrlich erklärte:
»Alles, von dem er behauptet, ich hätte es gesagt, habe ich gesagt.« Aber ein anderer, dem er nichts zuleide getan hatte, hatte ihm von hinten einen Dolch zwischen die Rippen gestoßen und ihn ermordet.
Cadfael verließ den Vespergottesdienst getröstet, aber seiner Verantwortung nicht weniger bewußt als vorher. Noch herrschte Tageslicht, das die schräg einfallenden Sonnenstrahlen bereits abendlich gedämpft hatten, und die Luft war so unbewegt, daß sie über alle Farben einen durchsichtigen Schleier zu legen schien. Einen Ort gab es, an dem er sich noch erkundigen konnte, bevor er weitere Schritte unternahm. Es war immerhin möglich, daß Fortunata, nachdem ihr Zweifel gekommen waren, ob sie es wagen konnte, so bald nach ihrem ersten Besuch abermals um Zutritt zu Elaves Zelle zu bitten, in der kurzen Abwesenheit des Pförtners jemanden beim Tor gebeten hatte, dem Gefangenen eine Nachricht zu überbringen, nichts, wogegen jemand Einwände hätte erheben können, nur ein paar Worte, um ihn daran zu erinnern, daß seine Freunde an ihn dachten und er den Mut nicht sinken lassen sollte.
Möglicherweise hatte es nichts zu bedeuten, daß Cadfael ihr auf dem Heimweg nicht begegnet war; es konnte sein, daß sie sich wieder in der Stadt befand und die Zeit mit
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