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Der Ketzerlehrling

Der Ketzerlehrling

Titel: Der Ketzerlehrling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellis Peters
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hoffen«, erklärte Girard rundheraus.
    Bruder Anselm hatte seine Werkstatt in einer Nische am Nordende des Kreuzgangs, wo er seine Notenhandschriften ordentlich und liebevoll aufbewahrte. Er war gerade damit beschäftigt, die Bälge seiner kleinen, tragbaren Orgel zu reparieren, als sie bei ihm auftauchten, aber er stellte das Instrument bereitwillig beiseite, als er die Schatulle sah, die Girard vor ihm niedersetzte. Er ergriff sie und drehte sie so, daß möglichst viel Licht darauf fiel, um die Feinheiten der Schnitzerei bewundern zu können und die satte Farbe, die die Zeit dem Holz verliehen hatte.
    »Das ist ein herrliches Stück! Der Mann, der sie angefertigt hat, verstand sein Handwerk. Seht Euch das Elfenbein an, die große runde Stirn, als hätte der Schnitzer zuerst einen Kreis geschlagen und dann die Linien des Alters und der Nachdenklichkeit eingearbeitet. Ich frage mich, wer hier dargestellt ist? Gewiß einer der Kirchenväter. Es könnte Johannes Chrysostomus sein.« Mit der Fingerspitze folgte er behutsam den Windungen und Ranken des Weinlaubs. »Wo ist er an ein derart schönes Stück gekommen?«
    »Elave hat mir erzählt«, sagte Cadfael, »daß William es auf einem Markt in Tripoli kaufte, von irgendwelchen Mönchen, die in der Gegend um Edessa vor den Horden aus Mosul aus ihren Klöstern flüchten mußten. Glaubt Ihr, daß es dort angefertigt wurde, im Osten?«
    »Für das Elfenbein könnte das zutreffen«, sagte Anselm.
    »Das dürfte im Byzantinischen Reich entstanden sein. Das rundliche Gesicht, die großen, starren Augen … Was die Schnitzerei an der Schatulle angeht, bin ich mir nicht so sicher.
    Ich glaube eher, daß sie irgendwo näherbei geschaffen wurde.
    Nicht in einem englischen Haus – vielleicht in Frankreich oder Deutschland. Haben wir Eure Erlaubnis, Tochter, sie von innen zu betrachten?«
    Fortunatas Neugier war geweckt; sie lehnte sich interessiert vor, um sich nichts von dem entgehen zu lassen, was Anselm zu zeigen hatte. »Ja, öffnet sie!« sagte sie und reichte ihm den Schlüssel.
    Girard drehte den Schlüssel im Schloß und hob den Deckel, um die kleinen Filzbeutel herauszuholen, die, als er sie auf das Pult legte, ihr leises Klirren von sich gaben. Das Innere der Schatulle war mit blaßbraunem Pergament ausgekleidet.
    Anselm hob sie ins Licht und schaute hinein. An einer Ecke hatte sich die Auskleidung ein wenig vom Holz gelöst und aufgerollt, und dort war zwischen Pergament und Holz ein schmaler Streifen von dunklerer Farbe zu sehen. Er holte ihn mit einem Fingernagel vorsichtig heraus und entrollte ein Stückchen purpurnen Pergaments, das von einem größeren Stück abgerissen war – eine Kante war ausgefranst, der Rest zeigte den sauberen Rand eines Ausschnitts aus einem Kreis oder Halbkreis. Ein so winziges Stück, kaum größer als ein Daumennagel, und so unerklärlich. Er legte es auf sein Pult und strich es glatt. Die Farbe, obwohl abgegriffen und vielleicht blasser, als sie einst gewesen war, war ein sattes Purpur.
    Auch die helle Auskleidung auf dem Boden der Schatulle zeigte hier und dort einen ganz schwachen Anflug dunklerer Flecken. Cadfael strich vorsichtig mit einem Fingernagel von einem Ende zum anderen und betrachtete dann den feinen Pergamentstaub, der sich dabei abgelöst hatte, und den sauberen Strich, der auf dem Pergament entstanden war.
    Anselm fuhr mit dem Finger darüber, aber der Strich war auch danach noch deutlich zu sehen. Er betrachtete eingehend seine Fingerspitze und fand dort etwas, das ihn veranlaßte, noch genauer hinzuschauen und dann wieder nach der Schatulle zu greifen und sie ins volle Sonnenlicht zu halten. Und Cadfael sah, was Anselm gesehen hatte: eingefangen in der samtigen Oberfläche des Pergaments, unsichtbar außer in ganz hellem Licht, das Funkeln von Goldstaub.
    Fortunata betrachtete neugierig das auf dem Pult liegende purpurne Stückchen. Man hätte es mit einem Atemhauch fortblasen können. »Was kann das gewesen sein? Wozu hat es gehört?«
    »Es ist ein Stück von einer Lasche, wie man sie gewöhnlich bei Büchern an das obere und untere Ende des Rückens näht, wenn sie in einer Truhe aufbewahrt werden sollen, nebeneinander, mit dem Rücken nach oben. Die Laschen erleichtern das Herausziehen des einzelnen Buches.«
    »Dann glaubt Ihr also«, fragte sie, »daß in dieser Schatulle früher ein Buch aufbewahrt worden ist?«
    »Es wäre möglich. Die Schatulle dürfte hundert, vielleicht sogar zweihundert Jahre alt sein.

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