Der Kinderdieb
anderen Ende des Teichs, wo ein Geflecht aus leuchtend weißen Weinreben, Blumen und Blättern einen Thron aus aneinandergelehnten Steinen überwuchert hatte. Das Pflanzengebilde sah aus wie eine elegante Frau in einem langen Kleid. Nick erkannte, dass es sich bei vielen der Blätter in Wirklichkeit um weiße Schmetterlinge handelte, von denen manche nur langsam mit den Flügeln schlugen, während andere umherflattern und so den Eindruck erweckten, dass das Gewebe sich bewegte.
»Sie ist im Teich«, sagte Flitz, und die Teufel schoben sich alle gemeinsam vor, um sie zu sehen.
»Da ist sie«, sagte Blutrippe.
»Wo?
Oh!
«, sagte Grille.
Nick suchte mit den Augen das trübe Wasser ab. Er sah sie nicht, dafür bemerkte er kleine, geflügelte Fische mit Jungenund Mädchenoberkörpern, die dicht unter der Oberfläche umherflitzten und einander nachjagten. Dann erst begriff er, und er sah sie ganz deutlich. Auf der spiegelnden Wasseroberfläche fügten die weißen Blumen, die Blätter und die Schmetterlinge sich zu der Dame zusammen. Wie bei anderen Illusionen auch war sie nicht mehr zu übersehen, nachdem er sie einmal entdeckt hatte.
Er blickte wieder auf, und da saß sie auf dem Thron, bewegungslos wie eine Marmorstatue, und starrte mit schweren Lidern den Baum an. Ihr Kopf war in die Blumen, Ranken und Blätter gebettet, die sie wie fürsorgliche Arme umfingen. Ihre Haut war so weiß, dass sie fast zu leuchten schien, ihr Hals war lang und schlank, und sie hatte volle, aber blasse Lippen und hohe Wangenknochen. Ihre Augen standen weit auseinander, fast zu weit, was ihren Zügen etwas Tierhaftes verlieh. Als Nick in diese Augen sah, diese ausdruckslosen, glasigen Augen, erkannte er, wie zerbrechlich, wie verwundbar sie in Wirklichkeit war. Und als die Hitze in seinen Eingeweiden aufwallte, als sie Flammen schlug, als sein Blut sich schwarz verfärbte und ihm wie Gift durch die Adern strömte, dachte er:
Es wird mir so guttun, sie zu töten.
»Dame Modron.« Mit einem schwachen Seufzen entfleuchte ihr Name Peters Lippen.
Sie ist zu dünn, dachte er und konnte den angstvollen Gedanken daran, dass sie vielleicht tot war, nicht verdrängen. Er schaute ihr in die Augen, die starren, ausdruckslosen Augen, und entdeckte keinen Lebensfunken darin, nichts. Er trat leise an sie heran und legte Sekeu auf das schwammige Moos zu ihren Füßen. Dann räusperte er sich. »Meine Dame«, sagte er sanft.
Sie starrte weiter an ihm vorbei, durch ihn hindurch, ohne auch nur zu blinzeln.
Peter folgte ihrem Blick zu dem Baum. Noch immer konnte er kaum glauben, dass er hier war, bei Avallachs Baum. Ihm fiel auf, dass er mehrere welke Blätter trug und einige seiner Äste kahl und tot aussahen. Er fragte sich, wie viel Zeit Avalon noch blieb.
Er fiel auf ein Knie, streckte den Arm aus und legte behutsam seine Hand auf die der Dame, als fürchtete er, dass sie unterder Berührung zerbrechen könnte. Ihre Hand fühlte sich kalt an.
»Meine Dame«, flüsterte er. »Dame Modron. Ich bin es. Peter.«
Ihre Miene veränderte sich nicht.
»Dame«, sagte er einmal und dann noch einmal.
Da spürte Peter eine Hand auf der Schulter und hörte Tanngnosts tiefes Seufzen.
»Es tut mir leid, Peter. Das hatte ich befürchtet. Sie lebt noch, doch sie hat uns verlassen und sich tief in ihr Inneres zurückgezogen. Sie tut nicht viel mehr, als den Nebel am Leben zu erhalten.«
»Ich kann mich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal etwas gesagt hat«, meinte Drael. »Vielleicht hat sie mit Ulfger gesprochen. Ich weiß es nicht. Er hat allen verboten, sich ihr zu nähern.«
»Peter«, sagte Tanngnost leise. »Ich fürchte, wir können nicht zu ihr durchdringen.«
Der Junge hielt weiter die Hand der Dame und schaute ihr in die Augen. Er gab die Hoffnung nicht auf. Dann spürte er etwas Warmes an der Brust – den achtzackigen Stern. Er zog sich den Anhänger über den Kopf und betrachtete ihn. Ein kaum merkliches Glühen pulsierte in der Mitte des Sterns.
»Nein, sie weilt noch unter uns.«
Er ergriff die Hand der Dame, drehte sie vorsichtig mit der Handfläche nach oben und legte den Anhänger hinein. Der Stern begann heller zu leuchten.
»Dame«, rief er. »Meine Dame.«
Die Dame schloss die Augen und öffnete sie dann langsam wieder. Sie starrte auf den Stern. Ihre Lippen bewegten sich. Kein Laut kam heraus, doch Peter konnte ohne Schwierigkeiten von ihren Lippen lesen. »Mabon«, hatte sie zu sagen versucht. Ihre Hand schloss sich um den
Weitere Kostenlose Bücher