Der Kinderdieb
Stern. »Mabon«, wiederholtesie, und ihre Stimme war kaum mehr als ein Lufthauch. Ihr Blick ging wieder in die Ferne, dann schloss sie langsam die Augen und regte sich nicht mehr.
Peter wartete, doch die Dame gab kein weiteres Lebenszeichen von sich.
»Meine Dame. Ich bin es, Peter.«
Noch immer antwortete sie nicht.
Peter stand auf, räusperte sich und fing an, leise zu summen und dann zu singen. Langsam wurde sein Lied lauter und seine Stimme klarer. Er fand die alte Melodie wieder, das Lied des Sonnenvogels. Als er sang, als seine klangvolle Stimme von den hohen Felswänden widerhallte, liehen ihm auch die Vögel und Feen ihre Stimmen, und bald war sein Lied überall im Garten zu hören.
Peter merkte, wie der Dame eine Träne übers Gesicht kullerte. Sie öffnete die Augen. Diesmal sah sie ihn.
»Peter«, flüsterte sie, streckte die Hand aus und berührte seine Wange. »Mein kleiner Petervogel? Du bist zu mir zurückgeflogen.«
Er nickte heftig, und Tränen ließen seine Sicht verschwimmen. Ihre liebevolle Geste berührte ihn so viel tiefer als nur auf der Haut. Er spürte sie bis in sein Innerstes, spürte Wärme in sich aufwallen. Als ob sie noch immer in jenem Teich wären, wie vor so langer Zeit.
»Du bist den ganzen Weg von der Anderwelt bis hierher geflogen, nur um ein Lied für mich zu singen«, sagte sie.
Peter nickte gedankenverloren.
Ihr Blick erfasste Drael und Tanngnost. Sie runzelte die Stirn und machte ein verwirrtes Gesicht. »Ihr seid ja auch zurückgekommen. Oder habe ich diese Welt endlich verlassen? Ulfger sagte mir, dass ihr alle tot seid.«
»Nein, meine Dame«, sagte Tanngnost. »Wir sind nicht tot. Und Ihr auch nicht.«
Peter hörte die anderen kaum. Ihre Stimmen wurden vom Pochen seines Herzens gedämpft. Mit einer Hand fasste er sich an die Wange, die noch immer von der Berührung der Dame kribbelte. All das war schlicht überwältigend. Nachdem er es sich eine Million Mal gewünscht hatte, war er nun endlich wieder an ihrer Seite. Er hatte das Gefühl, dass sein Herz gleich explodierte, dass man ihm seinen Willen genommen hatte und er nichts weiter tun konnte, als sie anzustarren. Er wollte nur noch auf ewig im Licht ihrer Anwesenheit baden.
Sie ließ den Blick durch den Garten schweifen, erst zu den Teufeln und dann zu den Barghests. Dann bemerkte sie Sekeu, die bewegungslos zu ihren Füßen lag.
»Wer ist das?«
Peter riss die Augen von der Dame los, bemerkte das verletzte Mädchen im Gras und fragte sich, wer sie war.
»Meine Dame«, sagte Tanngnost. »Seit der Schlacht in der Neckerbucht ist viel geschehen. Avalon hält noch immer stand. Peter hat die Clans zusammengerufen. Heute hat er …«
Sekeu
, dachte Peter.
Sekeu stirbt.
Mit einem Mal sah er die Welt um sich herum wieder scharf. »Sie braucht deine Berührung«, unterbrach ihn Peter. »Sie wurde bei dem Versuch, den Flüsterwald zu verteidigen, schwer verwundet.«
»Eine von deinen Teufeln? Sie kämpft für Avalon?«
»Ja«, sagte Peter. »Sie kämpft für dich. Sie blutet für dich. Sie wird sterben, wenn du ihr nicht hilfst.«
»Helft mir, zum Teich zu kommen.« Die Dame stemmte sich von ihrem Thron hoch.
Peter und Drael eilten an ihre Seite und legten sich jeder einen ihrer Arme um die Schulter. Behutsam führten sie die Dame über eine kleine Steintreppe in den Teich. Sie trieb vom Ufer fort und versank langsam im Wasser.
Leichter Nebel breitete sich auf der Teichoberfläche aus, das Wasser klärte sich und gab nach und nach den Blick auf dasSteinbett frei. Die Dame tauchte wieder auf, und nun lag Leben in ihren himmelblau funkelnden Augen.
»Bringt mir das Mädchen«, sagte sie mit klarer, kraftvoller Stimme.
Peter hob Sekeu hoch. Sie fühlte sich leblos an, doch dann stieß sie ein leises Stöhnen aus, und er wagte zu hoffen, dass es vielleicht, ganz vielleicht, doch Rettung gab. Er trug sie die Stufen hinunter und ließ sie in die Arme der Dame treiben.
Die Dame zog Sekeu unter Wasser und schwamm Richtung Baum. Der Nebel wurde dichter, umwogte sie in grauen Schwaden und versperrte die Sicht nach unten. Die Goldadern in den Felswänden verloren ihren Glanz, die Kaverne verdunkelte sich, und der Nebel zu ihren Füßen begann zu leuchten und tauchte die Gesichter der Elfen und Teufel in ein geisterhaftes grünes Licht.
Sie warteten. Nervös traten die Teufel von einem Fuß auf den anderen und spähten in den Nebel.
Peter hielt nach Bewegungen Ausschau, nach einem Platschen, nach Wellen, nach
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