Der Kinderdieb
ihre eigenen Nachbarn, Brüder, Schwestern und Ehefrauen verleumdet hat? Ja, aber mit Sicherheit
, dachte der Kapitän. Doch er wollte weiterleben, also behielt er seine wahren Gedanken zu diesem Thema, wie zu so vielen anderen auch, für sich.
»Euer Gnaden. In diesen Angelegenheiten weiß niemand besser Bescheid als der Rat. Meine Sorge gilt allein der Frage, wie diese Jungen dem Rat am besten dienen können. Wenn man mir ein wenig Zeit mit ihnen einräumen könnte?«
Der Prediger beäugte ihn abfällig. Der Kapitän gab sich alle Mühe, seine wahren Gefühle zu verbergen. Er wusste ganz genau: Ein Wort dieses Mannes genügte, und er fand sich neben Peter am Kreuz wieder.
»Kapitän, der Herr war so gnädig, dich mit den Früchten deiner Arbeit zu belohnen. Erbitte nicht mehr, als du brauchst.«
Der Kapitän deutete eine Verbeugung an. »Natürlich, Euer Gnaden. Der Herr war heute mehr als großzügig«, antwortete er in dem Wissen, dass er bereits zu weit gegangen war.
Der Prediger wandte sich den Wachen zu. »Bringt sie zum Teich und macht sie bereit.«
Der Kapitän bemerkte das Entsetzen in den Augen der Jungen. Er wusste, dass er ihre Gesichter erneut sehen würden, nachts, wenn der Nebel ihn heimsuchen kam.
Der Kapitän trat in seine Hütte und zog das schwere Stoffstück hinter sich zu, um den Lärm vom Dorfplatz so weit wie möglich auszusperren. Er lehnte sich in den Türrahmen, atmete tief aus, um seinen Kopf und sein Gemüt zu beruhigen.
Domitila, eine der wenigen Personen, denen er vertrauen konnte – dankenswerterweise hatten nicht alle den Verstand verloren –, kämmte dem Jungen die Knoten aus dem Haar. Der Kapitän war erstaunt, was für einen großen Unterschied es machte, dem Jungen einfach nur das Gesicht zu waschen und ihm die Haare zu kämmen. Domitilas Augen war unverkennbar anzumerken, dass die Gegenwart dieses Kindes sie zutiefst bewegte, und auch der Kapitän war gerührt. Wann hatte zuletzt jemand von ihnen ein Kind in seiner Nähe gehabt, oder überhaupt einen Menschen, dessen Fleisch nicht verwachsen und schwarz war?
Danny hatte die Kartoffeln und den Kohl aufgegessen. Er trank gerade seinen Becher leer und stellte ihn ab. Da drang ein gedämpfter Schmerzensschrei durch den Vorhang. Der Junge hörte auf zu essen und schob den Teller von sich, als wollte er ihn nicht mehr sehen, als wollte er nicht daran erinnert werden, was er getan hatte. Er schlug die Hände vors Gesicht und begann erneut zu weinen.
Der Kapitän bedeutete Domitila, den Teller abzuräumen, trat neben den Jungen und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Wenn ich richtig verstanden habe, heißt du Daniel«, sagte er. »Ein guter Christenname.«
Danny blickte nicht auf.
Der Kapitän zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben den Jungen. »Daniel, du darfst dir keine Vorwürfe machen. Eines musst du hier und jetzt begreifen: Du hattest
keine
Wahl. Niemand versteht das besser als ich. Wir sind uns sehr ähnlich, du und ich. Wir sind beide den Umständen unterworfen, in denen wir uns befinden, und man hat uns beide dazu gezwungen, Dinge zu tun, die wir nicht tun wollten. Die wir sonst nie getan hätten.« Der Kapitän senkte die Stimme. »Wir beide brauchen einander, um hier rauszukommen. Ich muss mich dir anvertrauen können, mich auf dich verlassen können.«
Danny hob den Kopf und starrte den Kapitän an, verwirrt, aber neugierig.
»Ich habe einige Informationen, die ich gerne mit dir teilen würde. Informationen, die ich dem Prediger gegenüber nicht erwähnen konnte. Kann ich dir vertrauen, Daniel?«
Eine Spur von Hoffnung huschte über Dannys Gesicht, und er nickte vorsichtig.
»Überall um uns herum regiert der Wahnsinn. Es ist, als ob dieser Ort ihn hervorbringt, sowohl beim Prediger als auch bei der Dame. Du bist ein schlauer Junge, deshalb weiß ich, dass du das erkennst. Du hörst ja, was da draußen vor sich geht. Das ist Wahnsinn, aber es entzieht sich deiner Kontrolle – und
meiner
Kontrolle. Keiner von uns kann etwas daran ändern. Uns bleibt jetzt nur noch eines übrig, und zwar diesen Wahnsinn zu
überleben
.«
Der Kapitän seufzte.
»Die anderen sind nun in den Händen des Predigers, in den Händen von Fanatikern. Für sie gibt es keine Hoffnung mehr. Ich wünschte, dem wäre nicht so, aber du warst selbst dabei. Ich habe ihnen eine Chance gegeben, und sie haben sich entschieden. Dafür darfst du dir nicht die Schuld geben. Ich will einfach nur weg von dieser Insel, und wir
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