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Der Kinderdieb

Titel: Der Kinderdieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brom
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Ich sehe dich ganz genau. Heb dich hinfort, sonst wirst du die Pein des Tauchens zu spüren bekommen!« Der Älteste beugte sich zu ihnen vor. »Jungen«, flüsterte er, und sein Tonfall war plötzlich sanft und gütig. »Wenn ihr mich hören könnt, dann bittet den Herrn, euch Kraft zu ge ben. Lasst ihn eure Stimmen vernehmen.« Dabei blickte er Nick tief und forschend in die Augen.
    In diesem Moment sah Nick einen anderen Menschen vor sich, eine Seele voller Mitgefühl und Erbarmen. Der Mann war den Tränen nahe, als er durch die Gitterstäbe griff und Nick bei der Schulter packte.
    »Bitte, mein Junge, bitte, hör mich an.«
    Nick begriff mit einem Mal, dass dieser Mann wirklich glaubte, er könnte ihnen helfen, und irgendwie machte das die ganze Sache umso grauenvoller.
    »Kinder«, rief der Prediger nun. »Bei der Liebe Gottes, findet die Kraft, euch zu befreien. Bezwingt diese Dämonen. Erhebt eure Stimmen, auf dass Er euch hören kann!«
    Auch in der Menge riefen nun mehrere: »Auf dass Er euch hören kann«, und: »Betet zum Herrn.«
    Der Prediger trat zurück und musterte sie erwartungsvoll.
    Ich soll meine Stimme erheben?
, dachte Nick.
Und was soll ich sagen?
Was erwarteten sie von ihm? Er suchte nach Worten, doch er brachte nichts weiter heraus als ein »Gott steh mir bei«.
    Der Prediger schüttelte langsam den Kopf. Dann nickte er den beiden Männer an dem Gegengewicht zu, die sogleich den Käfig über den Teich schwenkten. Leroy stieß einen schwachen Schrei aus. Einige aus der Menge drängten sich mit eifrigen Mienen an die besten Uferplätze. Die Leute benahmen sich wieZuschauer bei einem Boxkampf. Nick starrte ins dunkle Wasser.
    »Kinder«, rief der Prediger. »Erhebt eure Stimmen zu
Gott!
«
    »OH GOTT!«,
schrie Leroy. »Jesus, Gott, Herr, hilf uns, um Himmels willen! Jesus Christus, Jesus Christus, Jesus Christus, hilf uns!«
    Nick hatte nicht das Gefühl, dass dies die Worte waren, die der Prediger sich erhofft hatte, trotzdem fiel er ein. »Jesus, bitte hilf uns.«
    Plötzlich erklang ein seltsames, lautes Lachen, das sie verstummen ließ. Es war Blutrippe, der aus vollem Hals lachte.
    Das gesunde Auge des Predigers verengte sich zu einem Schlitz, und die Menge trat einen Schritt zurück.
    »SAG DEINEN ENGELN, DASS SIE SICH INS KNIE FICKEN KÖNNEN!«,
schrie Blutrippe und lachte wieder. Für einen kurzen Moment war er ganz der Alte, mit seinem irren, wilden Grinsen auf den Lippen. »Ihr könnt euch alle mal ins Knie ficken«, heulte er, erneut gefolgt von dem irren Lachen. Dann würgte und hustete er.
    Nick sah, wie Blutstropfen aus seinem Mund spritzten und auf seiner Brust landeten.
    Die Miene des Predigers verfinsterte sich. Er spitzte die Lippen und gab den Männern am Gegengewicht ein Handzeichen. Langsam senkte der Käfig sich.
    Nick suchte mit dem Blick die Menge ab und entdeckte Furcht und Hass in den Gesichtern der Leute, die begierig darauf waren, ihn ertrinken zu sehen. Aber er bemerkte auch mehrere Anwesende, die wie starr vor Entsetzen wirkten und deren Gesichter voll Schmerz und Trauer waren – voll Mitleid. Viele von ihnen hatten die Hände zum Gebet verschränkt.
    Diesen Menschen streckte Nick den Arm entgegen. »Aufhören«, flehte er sie an. »Bitte, sie sollen aufhören.«
    Doch niemand trat vor. Sie wandten die Blicke von ihm ab und starrten auf ihre Füße oder in den Himmel.
    Das Wasser war warm und schleimig und roch nach verstopftem Küchenabfluss. Erst ging es ihm bis zur Hüfte, dann bis zur Brust und schließlich bis zum Hals. Blutrippes Kopf verschwand allmählich unter der Wasseroberfläche. Nick verfolgte, wie der Junge verängstigt und verwirrt die Augen aufriss. Er platschte zu Blutrippe hinüber, ergriff ihn mit beiden Armen und versuchte, ihn mit dem Kopf über Wasser zu halten, doch es war zu spät – für sie alle. Nick holte tief Luft. Er hörte Leroy »Oh Gott!« schreien, da gingen sie auch schon unter.
    Bleib ruhig
, dachte Nick. Er wusste, dass es keinen Weg aus dem Käfig gab. Wenn er sich absolut ruhig verhielt und sich nicht bewegte, überlebte er vielleicht. Doch dann kam ihm ein finsterer Gedanke:
Wozu überleben?
Wäre es nicht besser, zu ertrinken, als die Qualen durchzumachen, die ihn noch erwarteten? Was hatte der Prediger gesagt?
Knochenbrechen, Brandmarken, Verbrennen?
Er spürte, wie Blutrippes Leib ein letztes Mal heftig zuckte und dann schlaff wurde. Nick nahm an, dass er nun endgültig tot war, hoffte es sogar, hoffte, dass zumindest

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