Der Kinderdieb
einer diesem Albtraum entkommen war.
Als der Druck auf seine Lungen zunahm, blickte er zu dem Licht auf, das durch das trübe grünliche Wasser zu ihnen drang. Eine ganze Welt voller Luft, so nah und dennoch unerreichbar. Der Schmerz nahm zu und wurde schließlich überwältigend. Er hatte mal gehört, dass Ertrinken ein beinahe friedvoller Tod sei. Wenn dem so war, warum litt er dann solche Qualen? Warum fühlte sein Brustkorb sich an, als würde es ihn gleich von innen zerreißen? Sein Puls rauschte ihm in den Ohren. Weiße Flecken erblühten und explodierten vor seinen Augen, bis sein ganzer Kopf schließlich von einem hellen, unwirklichen Licht erfüllt war. Das letzte bisschen Luft verließ in einem krampfhaften Blubbern seine Lungen. Er wollte einatmen, doch als dasWasser in seinen Mund strömte, war seine Kehle wie verschnürt. Es würgte ihn, und er schluckte mehrere Mundvoll des schwarzen Schleims. Er packte den Käfig und klammerte sich so fest ins Korbgeflecht, dass es ihm in die Finger schnitt. Dann durchstieß sein Kopf die Oberfläche, und er versuchte erneut Luft zu holen. Er atmete einmal tief ein, und dann ergoss sich sein Mageninhalt mit einem schmerzhaften, krampfartigen Würgen aus Mund und Nase. Nach jedem erneuten Würgen wollte er automatisch einatmen, allerdings verschluckte er sich jedes Mal und musste sich erneut erbrechen. Er hörte ein entferntes, blubberndes Wehklagen, wie den ersten Schrei eines Neugeborenen, und begriff, dass es von ihm stammte. Schließlich konnte er wieder atmen. In tiefen Zügen sog er die Luft in seine Lungen – die süße, süße Luft.
Nick wischte sich das Schleimwasser aus den Augen und stellte fest, dass Blutrippe reglos unten am Boden des Korbs lag, die Augen geöffnet, das Gesicht blass und friedvoll. Der wilde Junge war tot. Nick wandte sich ab und spuckte Galle. Er hörte jemand anderen würgen und bemerkte Leroy, der sich an die Käfigwand klammerte. Seine Brust hob und senkte sich rasend, während er angestrengt Atem holte. Trotz allem, was er durchgemacht hatte, stellte Nick fest, dass ein Teil von ihm wünschte, Leroy wäre ertrunken.
»Herr, erlöse sie von ihren Dämonen«, rief der Prediger. »Sprecht, Kinder. Ruft seinen Namen. Es ist es an der Zeit, euch von euren Dämonen loszusagen.« So ging es immer weiter.
Dämonen und Engel und Gott und der heilige Scheißdrauf
, dachte Nick. Auf einmal wurde ihm klar, was wohl auch Blutrippe begriffen hatte: dass sie in der Klemme saßen, dass die einzigen Dämonen hier diese Männer in ihren langen schwarzen Umhängen waren, dass es nichts gab, was sie hätten sagen oder tun können, um diese kranken Sadisten davon abzuhalten, sie zu Tode zu foltern.
Jemand nahm Nicks Hand, und er zuckte zusammen. Leroy war zu ihm herübergerückt und starrte ihn aus schreckgeweiteten Augen an.
»N-n-nick«, stammelte er. »Alter, ich … ich muss dir was sagen.«
Nick riss seine Hand weg.
»He … bitte, sei nicht so«, flehte Leroy, und seine Stimme wurde schrill und versagte ihm fast. »Es tut mir leid. Es tut mir leid, dass ich so ein Arsch bin. Aber du musst mir zuhören … bitte. Es ist wegen meinem Vater. Da ist was passiert. Ich muss es jemandem erzählen. Nick, bitte, du musst mir zuhören.«
Nein, das muss ich nicht
, dachte Nick, weil er nämlich nicht vorhatte, seine vielleicht letzten Augenblicke damit zu verbringen, Leroy zuzuhören. Er wandte sich ab.
»Nick«, schluchzte Leroy. »Tu das nicht. Na schön, in Ordnung, ich hab gelogen. Ich hab die ganze Zeit gelogen. Also, hörst du mir jetzt zu? Bitte?«
Nick antwortete nicht.
»Ich weiß, dass ich immer bloß Müll baue. Genau wie zu Hause. Genau wie bei meinem Vater.« Einen Moment lang schwieg er. »Aber die Sache mit Sekeu … das war was anderes. Hier ist alles so komisch.« Seine Stimme senkte sich zu einem fast unhörbaren Flüstern. »Es … dieses Ding war in meinem Kopf. Ich hatte so eine Angst. Panische Angst.«
Mehr musste Leroy nicht sagen. Nick wusste genau, wovon er redete.
»Diese Augen haben sich in mich reingebrannt. Es hat mich dazu gezwungen.
Gezwungen
. Du hast es doch gesehen, oder? Du warst dabei, im Wald. Ich weiß, dass du es mitgekriegt hast.« Das Entsetzen war ihm noch immer anzumerken. »Du hast seinen Blick gespürt, seinen
brennenden
Blick.«
Da wusste Nick zweifelsfrei, dass das gehörnte Ungeheuer inLeroys Kopf eingedrungen war, genau wie es in seinen eigenen eingedrungen war.
»Hör mal«, sagte Leroy. »Ich
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