Der Kinderdieb
zum Dorfplatz trieben. Der zweite Prediger, ein eher kleiner Mann mit gerümpfter Nase und einem vorstehenden, scharfen Gebiss, der Nick an einen Maulwurf erinnerte, lief neben ihnen her. Er hatte die Hände wie zum Gebet verschränkt und starrte sie aus großen, mitfühlenden Augen an.
Nick hörte die unruhige Menge. Er versuchte zu schlucken und zuckte zusammen, als ein stechender Schmerz in seiner ausgedörrten Kehle aufflammte. Plötzlich wünschte er, dass er ebenfalls das Wasser angenommen hätte. Das ganze Foltergerede war doch sicher bloß ein Bluff, oder? Ein Trick? Warum hatte er dann solche Angst? War es etwa zu spät, sich anders zu entscheiden? Auf die Knie zu fallen und um einen Becher Wasser zu betteln? Er wollte Danny hassen, doch er hätte beinahe selber klein beigegeben. Er hätte es sogar mit Sicherheit getan, wenn er auch nur eine Sekunde lang geglaubt hätte, dass er dem Kapitän oder einem seiner Männer trauen könnte. Die ganze Sache war nicht mal mehr hoffnungslos, sie war einfach nur
absurd
. Wäre es nicht so tragisch gewesen, hätte Nick darüber gelacht. Beide Seiten waren vor Angst und vor Hass aufeinander so verblendet, dass sie nicht mal merkten, dass sie eigentlich alle das
Gleiche
wollten – nämlich, dass die Männer die Insel verließen.
Was für ein Irrsinn!
Nick konnte sich kaum vorstellen, wie viele Unschuldige wohl auf beiden Seiten gestorben waren, weil die beiden Parteienes nicht hinbekamen, einfach mal miteinander zu reden.
Und wenn sie es getan hätten, hätte es geholfen? Wahrscheinlich nicht
, vermutete Nick. Die Dame hätte niemals den Nebel gelichtet, weil sie nicht darauf vertraut hätte, dass die Männer wirklich abreisten. Sie hätte immer befürchtet, dass mehr von ihnen kämen. Beide Seiten waren verdammt gewesen, sobald die Menschen einen Fuß auf den Boden von Avalon gesetzt hatten,
das
war die schlichte, tragische Wahrheit hinter diesem ganzen Albtraum.
Weiter vorne hörte Nick einen Schrei, gefolgt von Jubel.
Oh nein. Was ist jetzt?
Die Wachen schubsten sie auf den Dorfplatz. Nick bemerkte eine Gruppe grimmig dreinschauender Männer und Frauen, die sich vor der Kirche versammelt hatten, ihn jedoch nicht beachteten, sondern all ihre Aufmerksamkeit auf das große Kreuz auf der Tribüne vor ihnen richteten.
»Oh Gott«, keuchte Nick, denn Peter war an das Kreuz gebunden.
Sie hatten ihn gekreuzigt, indem sie ihn an Händen, Füßen und am Hals fest an die Holzstreben gebunden hatten. Sein Oberkörper war nackt, und Nick entdeckte mehrere glühend rote Striemen auf den Armen und der Brust und eine frische Wunde an der Stirn. Blut rann dem Gefesselten über die Wange und tropfte ihm auf die Brust. Der riesige, kahlköpfige Mann stand mit einer kurzen Peitsche in der Hand neben ihm. Peters Miene war angespannt, er hatte die Augen geschlossen und die Lippen zusammengepresst.
Nick, Leroy und Blutrippe blieben bei den Wachen zurück, während der Älteste weiterging und die Tribüne betrat. Leises Gemurmel machte sich in der Menge breit. Oben angekommen, hob der Älteste seinen Stab, und die Menge verstummte. Erwartungsvolles Schweigen lag in der Luft, wie vor der Hauptattraktion bei einer Zirkusvorstellung.
»Über ein Zeitalter lang hat uns dieses Kind Luzifers heimgesucht.« Der Prediger wies mit einer ausholenden Handbewegung auf Peter. »Doch jetzt haben wir ihn. Den Beweis, dass Gott uns nicht verlassen hat. Den Beweis, dass unsere Opfer nicht vergeblich waren. Den Beweis, dass wir Gottes erwählte Krieger sind. Luzifer hat seinen eigenen Sohn gesandt, um uns zu peinigen und unseren Glauben auf die Probe zu stellen. Heute schicken wir ihm seinen Sohn zurück. Zurück in den stinkenden Höllenschlund, aus dem er gekommen ist!«
Der Prediger donnerte den Stab auf die Tribüne, und die Menge brach in freudigen Jubel aus, rief »Preiset den Herrn!« und »Amen«.
Der Prediger blickte zu dem riesigen Kahlkopf hinüber. »Ochs, sind wir so weit?«
Der Hüne zog einen dicken Lederhandschuh über, trat an ein schwarzes Kohlebecken und zog ein Brandeisen aus den heißen Kohlen hervor. Er hielt es in die Höhe, sodass die Menge das rotglühende Kreuz an der Spitze begutachten konnte. Zufriedenes Murmeln erhob sich. Der Älteste nickte und trat von der Tribüne, während Ochs auf Peter zuging.
Der Prediger mit dem Maulwurfsgesicht beugte sich zu Nick und den anderen vor. »Passt gut auf, Kinder. Lasst die Dämonen unter euch genau hinsehen. Damit sie wissen, was
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