Der Kinderdieb
Gedanken waren zu schmerzlich. Nick wollte weinen, aber er stellte fest, dass ihm die Kraft dazu fehlte, also überließ er sich der gnädigen Umarmung eines tiefen, traumlosen Schlummers.
Nick fuhr aus dem Schlaf hoch. Etwas war an seinem Gesicht vorbeigehuscht –
eine Spinne?
Hastig setzte er sich auf. Ein schwaches bläuliches Licht zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Dort, zwischen den Türlatten, stand ein blauer Pixie, und nicht irgendein blauer Pixie, sondern das Mädchen aus dem Klo mit dem weißen Spinnwebenhaar.
Was macht die denn hier?
, fragte Nick sich und rieb sich die Stirn in dem Versuch, seine verklebten Gehirnwindungen wieder in Gang zu bringen.
Die Kleine flatterte mit den Flügeln und blinkte schwach. Sie wirkte völlig verängstigt und schaute sich in alle Richtungen um, als könnte jeden Moment eine Hand aus dem Nichts auftauchen und sie ergreifen.
Nick war froh, dass es ihr gut ging. Er brachte ein Lächelnzustande, und zu seiner Überraschung legte sie den Kopf schief und erwiderte es.
Einmal mehr fragte er sich, was seine Besucherin hier tat. Dann flatterte sie außer Sicht. Nick drückte das Gesicht ans Holz und begriff. Der Riegel vor seiner Tür wurde von nichts als einer Kette an Ort und Stelle gehalten, die an einem langen, gekrümmten Nagel eingehakt war. Nick konnte unmöglich an die Kette heranreichen, doch das Pixiemädchen gab sich alle Mühe, sie zu lösen. Mit einem Mal gestattete Nick sich wieder einen Funken Hoffnung.
Aber die Kette war schwer für so ein kleines Wesen, und das Mädchen konnte sie kaum bewegen. Es stemmte sich mit den Füßen gegen das Holz und zog und zerrte. Zwar rutschte die Kette ein Stück am Nagel empor, doch jedes Mal, wenn das Mädchen daran zog, schlug sie laut klappernd an den Riegel.
Nick spähte zu dem verkrüppelten Wachtposten am Feuer hinüber. Die Scheite waren heruntergebrannt und glühten unheimlich im dichten Nebel. Dem Wachtposten war das Kinn auf die Brust gesackt, und es war schwer zu erkennen, ob er wachte oder schlief.
Die Kette klapperte erneut, und das Pixiemädchen zögerte. Es flatterte fort und kehrte kurz darauf zurück, als hätte es erst all seinen Mut zusammennehmen müssen. Nick erinnerte sich an die toten Pixies, die er neben den Fischen an der Wäscheleine gesehen hatte. Er fragte sich, welche Fallen diese Männer den kleinen Wesen stellten.
Die Kleine landete auf der Kette und sah zu Nick hinüber, der heftig nickte, um sie zu ermutigen, und sie mit Blicken anflehte, nicht aufzugeben. Die Kette hing nun ganz oben am Nagel. Das Pixiemädchen biss sich auf die Unterlippe, stemmte beide Beine gegen den Riegel und zog kräftig an. Da löste sich die Kette und ließ das Mädchen rücklings durch die Luft taumeln.Beim Herabschwingen prallten die Metallglieder laut klappernd gegen die Tür.
Nicks Blick huschte zu dem Alten in der sicheren Erwartung, dass er aufgewacht und alle Mühe umsonst war. Doch der Wachtposten regte sich nicht mal. Er lag einfach nur da, und sein Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig. Nick dankte den Sternen, dass der Mann schwerhörig war.
Jetzt, da die Kette gelöst war, musste Nick nur noch den Riegel beiseiteschieben. Er steckte die Finger zwischen den Latten hindurch und schob ihn Zentimeter für Zentimeter zurück. Schließlich fiel er aus der Halterung und landete mit einem dumpfen Laut auf der weichen Erde. Langsam drückte Nick die Tür auf, schlüpfte aus der Zelle und kauerte sich mit pochendem Herzen in die Schatten.
Was nun?
Das Pixiemädchen flatterte zu ihm herüber und schwebte nun direkt vor seinem Gesicht. Es streckte ihm die lange Zunge raus, grinste wie ein Mondgesicht und flog auf und davon, ein Streifen blauen Lichts, der im Nebel verschwand. Nick gestattete sich ein Grinsen. Von jetzt an durften ihm die Pixies jederzeit sein Essen klauen.
Der Junge behielt den Wachtposten im Auge, bereit, sich auf ihn zu stürzen, falls er erwachte. Doch der Alte grunzte und schnarchte nur. Dann spähte er über die Anhöhe. Die schattenhaften Umrisse der rückwärtigen Befestigungsanlagen waren keine zwanzig Meter entfernt. In diesem Nebel wäre es ein Kinderspiel, ungesehen zur Palisade zu huschen, drüberzuklettern und sich davonzumachen.
Hier gibt es nichts mehr für mich zu tun
, dachte er und ging Richtung Palisade.
Ich bin fertig mit diesem Wahnsinn, fertig mit den Fleischfressern, den Teufeln, der Dame und vor allem mit … Peter
. Er hielt inne.
Der Nebel wurde dichter,
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